erstmal ein großes Danke an Kurt, Ingo und die anderen für die tollen Geschichten, ich schaue hier sehr oft rein und möchte an dieser Stelle ein Kompliment loswerden!
Eine Frage hätte ich an die (ehemaligen) Aktiven: Gibt / Gab es Baureihen, die ihr besonders gern gefahren seid? Und wenn ja, weshalb? Vieles kann man schon zwischen den Zeilen lesen aber ich bin mir sicher, das interessiert nicht nur mich!
Viele Grüße und macht weiter so, Daniel
Hallo Daniel,
danke für das Lob!
Zu Deiner Frage: Die ist nicht leicht zu beantworten, weil jede Loktype ihre speziellen Vor- und Nachteile besaß. Das Laufverhalten der alten E 110 erinnerte zwar an einen "Bollerwagen", sie war aber zuverlässig wie ein Betonklotz. Und wenn sie mal was hatte, war die Störung (ausgenommen Schaltwerkspendeln) meist rasch zu finden. Ich hab' die 10er trotz Zugluft und Rütteltests (des Lokführers) immer gern gefahren, sie vermittelte irgendwie das "popologische" Direktgefühl zur Schiene.
Star der 70er und 80er Jahre war unstreitig die E 103, mit der mich unzählige Zugfahrten und hunderttausende Kilometer verbinden; in 23 Jahren auf der 103 hatte ich ganze zwei Störungen, die zur Hilfslok führten. (Eine davon findest Du unter der Überschrift "Die Todesfrikadelle von Stadthagen".) Ferner - ja, damals war ich echt stolz darauf - war ich im April 1977, am Tage meiner Verwendungsprüfung, mit meinen 28 Lenzen der jüngste E-103-Lokführer der Direktion Köln. Die 103 war eine großartige Lok - von den viel zu kleinen Führerräumen der ersten vier Bauserien mal abgesehen. Technik vom Feinsten (bezogen auf ihre Zeit); die erste DB-Lok ohne Drehzapfen, die Drehgestelle wurden über Zugstangen geführt und mit Flexicoil-Federn gefedert und gelenkt. Und ihre schiere Kraft beeindruckte, zumal man mittels "Trafoumschaltung" den Oberstrom auf 820 A hochfegen konnte (die Umschaltung wurde später erst verboten, dann unwirksam gemacht).
Die 111er habe ich auch gerne gefahren - aber später lief sie bei uns nur noch in der S-Bahn ... und die hat wohl niemand gern gehabt.
Meine Lieblingslok war die E 120. Weil ich gemeinsam mit zwei weiteren (gleichermaßen beknackten) Kollegen die Drehstromantriebs- und -bremstechnik eifrig studiert habe, fühlten wir uns auf dieser geballten Ladung Elektronik total zu Hause. Die 120 erforderte die Einhaltung etlicher Spielregeln, beachtete man diese, konnte sie erstaunliche Leistungen vollbringen. Ich habe mit ihr mal einen aus vier Wagen bestehenden Nahverkehrszug gefahren (die Planlok war defekt) ... im Abgangsbahnhof Deutzerfeld ranzte der Zugführer mich an: "Da kommt der mit so einer lahmen Maschine!" (Die 120 mußte "vorgetaktet" werden, d.h., der Gleichstromzwischenkreis mußte geladen sein, bevor sie fahren konnte, und das dauerte ein paar Sekunden.) Nun, an jedem Haltebahnhof gab ich der Elektronik einen kurzen Auf-Auftrag (die 120 durfte theoretisch voll aufgesteuert angebremst stehenbleiben) - und ab dem zweiten Halt gab der gute Mann seinen Abfahrauftrag in einer offenen Tür im Wagen stehend: Die 120 zog ab wie ein Formel-1-Rennwagen: Die vier "Silberlinge" nahm sie nicht zur Kenntnis. Sagenhafte, perfekt verarbeitete Lok, die pro Stück 11 Millionen DM kostete.
Anno 1997 kam die E 101 ... die zerrte an den Nerven; ich werde später einige Geschichten über das "Wunder von AdTranz" schreiben...
und hier noch eine Begebenheit aus dem BW Köln-Nippes:
Wenn ich heute rückblickend betrachte, welche Umstände es erforderte, meine Arbeit in diesem Diesellok-Schuppen machen zu können, komme ich unweigerlich zu dem Schluß, daß sowas wirklich nur in jungen Jahren durchzuhalten war. Damit meine ich folgendes: Ich wohnte in Bonn, etwa vier oder fünf Kilometer vom Bahnhof entfernt. Das BW Köln-Nippes lag weit außerhalb vom Zentrum der Domstadt in Richtung Dormagen, auf halbem Wege zwischen dem zentral im Ortsteil befindlichen Haltepunkt Köln-Nippes und dem Stadtteil Longerich. (Ein Blick auf die Landkarte verdeutlicht meine Beschreibung.) In den späten 1960er Jahren befand sich der öffentliche Personennahverkehr bei weitem nicht auf dem heutigen Stand; S-Bahnen gab’s meines Wissens nur in Berlin, hierzulande lediglich Busse und den Nahverkehr der Bundesbahn sowie regionaler Verkehrsträger. Taktverkehr existierte bei der DB noch nicht (der wurde erst zusammen mit den IC-Blockzügen 1979 eingeführt), jeder Zug fuhr zu anderen „krummen“ Zeiten. Als positive Ausnahme mußte die zwischen Bonn und Köln über zwei Strecken verkehrende Köln-Bonner Eisenbahn gesehen werden: Diese oftmals unterschätzte elektrisch betriebene Privatbahn fuhr bereits im Takt, mit soliden Triebwagen, hyperpünktlich, beeindruckend zuverlässig – bis 1978, dann integrierte man sie ins Stadtbahnnetz und die KBE ist nur noch Geschichte. Schade, sehr schade… (Geistesblitz: Wäre die KBE nicht mal ein Modellbahnthema?)
Doch seien die obigen Modalitäten nur am Rande erwähnt, um die Probleme zu unterstreichen, welche seinerzeit mit der Fahrt zum weit entfernten Arbeitsplatz zusammenhingen. Arbeitsbeginn im BW Nippes war um sieben Uhr; ich mußte jeden Morgen um viertel nach Vier aufstehen, morgendliche Rituale, rasches Frühstück, Fußweg zur Bushaltestelle, zwanzigminütige Umwegfahrt zum Bonner Hauptbahnhof. Mit dem Nahverkehrszug bis Köln-HBf, dort von einer Bahnhofsseite zur anderen (von Gleis 2 nach 9) und mit einem weiteren Zug nach Köln-Nippes. Damit war ich jedoch noch nicht am Ziel, das BW lag ja „in der Prärie“, „jwd“, „janz weit draußen“. Für die auswärtigen Mitarbeiter gab’s jene Personalfahrt, die zwei Straßen weiter von einem auf Bürgersteigniveau liegenden Behelfsbahnsteig aus Richtung BW verkehrte: Der „Pendel“, ein Schienenbus Typ VT 95, der uns röhrend und schlingernd am Güterbahnhof Nippes entlang als Rangierfahrt mit maximal 25 km/h bis kurz vors BW brachte, dessen Umkleideraum mit weiteren rund fünf Fußwegminuten erreicht wurde. Und am Spätnachmittag das Ganze in umgekehrter Richtung; auf solche Weise war ich täglich rund 14 Stunden auf Gang – fast schon arbeitszeitliches Managerniveau, allerdings für etwas weniger Salär…
Frühaufsteher Mir ging’s vergleichsweise noch Gold. Wir hatten einen Kollegen, der wohnte irgendwo im rechtsrheinischen Siebengebirge, in einem kleinen Ort, der vom nächstgelegenen Bahnhof namens Königswinter aus nur mit den Bussen der Rhein-Sieg-Eisenbahn-Verkehrsgesellschaft erreichbar war. Es ging das Gerücht, diese Busse führen monatlich außer Mittwoch – soll heißen: „dünner“ Fahrplan. Logisch: Die paar zu befördernden Leutchen rechtfertigten keinen dichten Taktverkehr. Leidtragender war der oben erwähnte Kollege W., der auf meine feierabendliche Frage, wie er denn nach Hause komme, antwortete: „Erst wie du mit dem Pendel, dann per Zug nach Köln HBf, umsteigen, Zug nach Königswinter – und dann muß ich noch eine Stunde auf dem Kaninchen reiten.“ W. hatte An- und Abfahrzeiten, die heutzutage kein Mensch mehr mitmachen würde; als junger Familienvater besaß er zudem nicht genug Geld, um täglich zirka 100 Kilometer mit dem Auto zur Arbeit und zurück zu fahren. Daß die Blechgurken jener Tage derartige Belastungen zudem kaum längere Zeit durchstanden (von unbezahlbaren Ausnahmen abgesehen), will ich nur marginal in Erinnerung bringen. Also war W. auf den ersten Frühbus der RSVG und folgend die restlichen öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen, mußte jeden Arbeitstag vor vier Uhr aus den Federn raus – wen wundert’s, daß er tagsüber oft „im Tran“ war?
Zu seinem Glück besaß W. die Gabe, an allen denkbaren Orten und zu allen möglichen Zeiten ein kurzes Nickerchen einzulegen, wobei seine Drahtseilnerven hilfreich schienen: er vermochte aufrecht auf einem Stuhl sitzend zu schlafen, derweil wenige Meter entfernt der Dieselmotor einer V 100 bei offenen Motorraum-Schiebetüren dröhnte; nichtmal Achtungspfiffe weckten ihn auf. Dieses Phänomen erregte natürlich unsere Aufmerksamkeit, zumal W. sogar – irgendwo angelehnt – im Stehen schlafen konnte!
Eines Tages betrat ich die Dreherei durch die seitliche Tür neben unserer Elektriker-Ecke. Die Rückwände der blechernen Spindreihe bildeten zusammen mit der Holzwand bei der Drehbank eine Art Gang. Die Holzwand war mit hinter Glas geschützten Schaltplänen der Dieselloks versehen, weshalb man sich hier längere Zeit selbst unter den Augen von Vorgesetzten rumtreiben konnte: Es ging ums Schaltplanstudium! Ich komme, wie gesagt, von draußen in diesen Gang – und sehe den Kollegen W., der seitlich an der Rückwand der Spinde lehnte, den Kopf direkt am Blech … er schlief im Stehen (!) den Schlaf des Gerechten. Kopfschüttelnd und grinsend ging ich an ihm vorbei, schwenkte ums Eck und bemerkte den Kollegen St., der an einer auf der Werkbank liegenden Lichtmaschine rummontierte, winkte ihn herbei und zeigte ihm den Stehschläfer. „Nee sowas – ich muß auch saufrüh raus, aber der da … oh warte…!“ St. holte aus der Werkzeugausgabe einen Vorschlaghammer, nahm Augenmaß, zielte und donnerte mit dem schweren Hammer gegen die blecherne Rückwand eines von W. etwas weiter entfernten Spindes (der sollte schließlich keine mechanisch reaktionsbedingte Verletzung davontragen, sondern nur gehörig erschreckt werden). Ein „Urknall“ rollte durch die Werkhalle. W. öffnete ein Auge und fragte ruhig: „Is‘ was?“, schloß das Auge wieder und pennte weiter. Unglaublich, aber wahr. Nur eine tiefe Beule in der Blechwand zeugte für alle Zeiten von dem Geschehen…
mit diesem Beitrag möchte ich die „Sagas“ aus dem BW Köln-Nippes wirklich zum Abschluß bringen, schließlich harren noch etliche andere Geschichten des Erzählens. Ich will nachfolgend so eine Art Zirkelkreis ziehen, in dem mehrere urige Typen (teils nochmals und mit erweiterten Einzelheiten) vorgestellt werden. Mir ist klar, daß etliches unglaubhaft wirkt, doch erfahrene Eisenbahnfreunde und besonders „Nippes-Spezialisten“ wissen: Bei Gott und der Bahn ist nichts unmöglich – und wenn Gott seinen schlechten Tag hatte, kümmerte er sich um das BW Köln-Nippes…
Typen, die’s wirklich gab… Vorschlosser K., zuständig für alles Mechanische, Pneumatische und Hydraulische der Diesellok V 260; „Mutter der V 60“ nannten wir ihn. Nicht nur, daß er alles über die Lok wußte, er identifizierte sich restlos mit ihrer aus der späten Jungsteinzeit stammenden Technologie, was er stets unterstrich: „Stangenantrieb ist dat beste, alles andere kannst‘e verjessen!“ Auch politisch, bezogen auf Bahn, Gesellschaft und Zukunft, äußerte er, entsprechend befragt, stereotyp seine Meinung: „Dat janze System is' Dreß!“ (Das ganze System ist Sch…!)
In K.s Kolonne werkelte ein älterer Schlosser, Spitzname Männe, der ging so steif, daß wir ihn auch den „Mann ohne Kniegelenke“ nannten.
In der zweiten V-60-Kolonne gab es ebenfalls eine bemerkenswerte Type: Maschinenschlosser T., den man sich aufgrund seiner ganzen Erscheinungsart und Umgangsformen eher als distinguierten Butler vorstellen konnte. Er beherrschte das Kunststück, selbst nach Arbeiten neben der Schwungscheibe des Dieselmotors (dort war’s besonders schmierig und glitschig) wie aus dem Ei gepellt den Motorraum zu verlassen. Aus naheliegenden Gründen trug er den gleichwohl seltsamen Spitznamen „Lord Entenfuß“.
„Horex“, ein Werkstattarbeiter ohne irgendwelche handwerkliche Qualifikation, mußte das Äußere der Loks anläßlich der Fristarbeiten mit Putzwolle und Stammlösung (siehe frühere Berichte) pflegen, eine fürwahr fetthaltige Tätigkeit. Dabei sang er, lautstark und milchsauerwerdenlassend falsch, eigenschöpferische Lieder, wie jenes vom Hundchen, das nicht alleine raus durfte oder den Welthit „Herzkirschen für meine Liebste“. Höchst künstlerisch, fraglos top-intellektuell… Nach eigener Aussage wollte er später mit seiner Sangeskunst die Rente aufbessern – aber auch berühmt werden! Wir alle gönnten ihm die Erfüllung solcher Wünsche, denn wenn wir ihm bestätigten, wie gut er sei, hörte er auf zu singen, weil die Pläne in seinem Kopf zu brodeln begannen…
Ganz speziell war auch „Ühleknüüz“ – tja, wie soll ich dieses vokabelgewordene Dialektmonstrum übersetzen? „Ühl“ bedeutet Eule, „knüüz“ kann eine regionalaussprachliche Abwandlung von „Knuuz“ (Klumpen, Knubbel) sein, besitzt zudem als Verb „knüüze“ die Bedeutung „knutschen“, evt. auch „küssen“. Meiner Meinung nach wollte man ihn als „Eulenknutscher“ oder „Eulenküsser“, bzw. allgemein als personifizierte Eule apostrophieren. Denn Betriebsarbeiter Ühleknüüz hatte einen ziemlichen Sparren locker: Wenn es den zumeist durchaus vernünftigen Mann überkam, baute er aus großen Mengen Putzwolle auf dem vorderen Vorbau der V 100 ein Nest, hockte sich rein und gab Laute von sich, die wohl seiner Meinung nach solche der Eule waren. Das „Hu-hu“ hallte durch die gesamte Werkstatt und wir ließen ihn in Ruhe: sollte er seine Macke doch ausleben, er schadete schließlich niemandem. Eines Tages wollte er abwechslungshalber sein Nest auf dem Dach des in der Lokhalle liegenden Batterieraumes bauen, trat auf die mangelhaft gesicherte, nur mit einem Sack verstopfte Öffnung für den geplanten Abzugsventilator, stürzte ab und brach sich beim Aufprall auf einen Batterietrog die Hüfte. Sein klagendes „Hu-hu“ nahm keiner ernst, bis der Werkmeister sagte: „Heute übertreibt er es aber!“, nachschaute, im Laufschritt zurückkam und den Notarzt anrief. Ühleknüüz wurde per Krankenwagen abtransportiert; wie sahen ihn nie wieder.
Düsen-, Filter und Einspritzpumpenspezialist D., der schon mehrfach erwähnte „amtlich anerkannte Choleriker“, besaß für seine Arbeit einen eigenen, von der Dreherei abgeteilten Raum in Bauart und Größe einer (allerdings blechernen) Gartenlaube. Dort führte er Druckprüfungen durch, stellte die Pumpen ein, kontrollierte und reinigte mehrfach verwendbare Filterelemente. Man benötigt nicht viel Phantasie, sich seine Hände vorzustellen: schwarz, überzogen mit jener Teufelsmischung aus Altöl und Dieselsprit, die nur abwaschbar war, wenn man zunächst reinen Diesel zur Vorwäsche und dann Schmierseife zur Endreinigung anwandte. (Ob das gesund war? Darüber dachte in der „Vorumweltschutzzeit“ kein Mensch nach, es war halt so, schon immer, was willst du junger Spund denn besser machen?) Es begab sich, daß die Direktion Köln einen Oberamtsrat avisierte und entsandte, um die Arbeitsweisen im BW Köln-Nippes zu prüfen, gegebenenfalls Verbesserungen zu ersinnen und nicht zuletzt den Mitarbeitern auf die Finger zu sehen, ob gut und effizient gearbeitet wurde. Wir Elektriker waren rasch und positiv abgetan, weil wir uns vorbereitet und einen halb zerlegten Anlasser der V 60 auf der Werkbank scheinbar akribischer Revision unterzogen und dabei zudem noch unseren neuen Kollegen anlernten. Man muß nur wissen, wann Tricksen Vorteile bringt… Plötzlich hörten wir heftigen, lautstarken Wortwechsel aus D.s Filterbude; vermutlich hatte der Beamte irgendwelche andere arbeitstechnische Ansichten vorgebracht oder gar Zweifel an D.s Kompetenz gezeigt. Und nun kam’s: D. hatte den Oberamtsrat bei dessen Krawatte gepackt, zog ihn aus dem Büdchen raus und in die Dreherei, geriet zunehmend in Rage, und mit vor Wut hochrotem Kopf stieß er dem Oberamtsrat zu den Worten „Domet de süüs, wie doll de beß!“ (Damit du siehst, wie verrückt du bist!) rhythmisch die flache Hand mit der Mausgegend an die Stirn. Endlich, der Meister ging dazwischen, beruhigte sich D. und ließ des Oberamtsrates Krawatte los. Ich muß wohl nicht beschreiben, wie der gute Mann aussah…? Der ergriff jedenfalls stante pede die Flucht. Wochen später erfuhren wir, daß D. anläßlich einer Vorladung bei der Direktion als Choleriker anerkannt worden war. Es muß zwischen ihm und einem hohen Beamten in etwa folgendes Gespräch abgelaufen sein (ich gebe die Überlieferung wieder): „Ja, Herr D., dann erzählen Sie doch mal, wie es zu dem Vorfall kam.“ „Also, do kütt dat A…loch in ming Bud‘…“ (Da kommt das A…loch in meine Werkstatt…”) „Bitte, Herr D., mäßigen Sie sich! Hiermit verwarne ich Sie!“ „Jo, do koom die domm Sau…“ (Ja, da kam die dumme Sau…) „Herr D.! Ich verwarne Sie zum letzten Mal!“ „Isch bin jo janz ruisch. Also, do kom der verdötschten Lellbeck…“ (Ich bin doch ganz ruhig. Also, da kam der verrückte … „Lellbeck“ ist unübersetzbar, bezeichnet eine ebenso unfähige wie dennoch angeberisch-überhebliche Person.) Es wird erzählt, daß seitens der Direktion eine Aktennotiz gefertigt wurde, derzufolge der fachlich erstklassige D. in Ruhe zu lassen und mit Vorsicht und Nettigkeit zu behandeln sei. Ob er’s darauf angelegt hatte, wissen die Götter…
Oder nehmen wir den Kollegen M., der gerne alles mögliche dem Vorelektriker oder gar dem Werkmeister hinterbrachte, vulgo: petzte und dem wir dieserhalb mal das Fahrrad sabotierten. Er hatte sich endlich auch ein Auto gekauft – Ältere unter uns erinnern sich vielleicht: Ford 12m, ein für Deutschland eingeschrumpfter Ami-Verschnitt mit vorderen wie hinteren Blattfedern, Frontantrieb (immerhin), Starrachse hinten und riesengroßem Kofferraum. Jedenfalls gab M. mit diesem Auto gewaltig an und nutzte den voluminösen Kofferraum, möglichst oft möglichst viel Abfallholz aus der Schreinerei mitzunehmen; er scheute sich des weiteren nicht, auch beim Gleisbauhof um Schwellenabschnitte zu betteln. Mit seinem „Ergeierten“ heizte er daheim den Ofen. Nun kann der Rheinländer alles verzeihen, aber Bettelorgien zur persönlichen Vorteilsnahme sind streng verpönt. So kam es, wie es kommen mußte: Kollege H., der begabte Schlösserknacker, öffnete eines Nachmittags binnen zwei Sekunden M.s Kofferraum, wir räumten das Holz auf ein Transportwägelchen, um es zur Schreinerei zurückzufahren, stapelten dann die auf einem anderen Wägelchen mitgebrachten Grauguß-Bremsklötze (Bauart für V 100) in den Kofferraum, den H. hernach sorgfältig verschloß. Das Auto hing fast mit dem Auspuff auf der Erde. Feierabend, auch ich (mittlerweile ebenfalls Autobesitzer) strebte zum Parkplatz – dort stand M. verzweifelt vor seiner völlig überladenen Karre, jammerte und lamentierte, holte schließlich den Werkmeister. Der besah sich die Sache und kommentierte: „Äää, Herr M., das geht aber nicht, daß Sie hier Bremsklötze klauen und privat verkaufen! Die bringen Sie sofort zurück!“ M. tat schwitzend wie befohlen – Holz nahm er nicht mehr mit.
Und in und zwischen all dem der kleine Kurt, erst 18, später 19 Jahre alt, 1,72 halbgroß, ganze 68 Kilo Gewicht, lange Haare, damals Mode, täuschend braves Äußeres … scheinbar ein leichtes „Opfer“. Denn wie jedem Neuen, spielten die Jungs mir am ersten und zweiten Tag Streiche – was nicht zuletzt der Abklärung der Hackordnung diente –, doch ich hatte Elektriker auf dem Bau gelernt und war rauhen Umgang sowie entsprechendes Reagieren gewöhnt. H. hatte mir die Werkzeugtasche auf der Werkbank festgenagelt – als Gegenleistung füllte ich die wasserdichte Blechschublade, die seine Werkzeuge, die Zigaretten und ein Feuerzeug enthielt, mit rund 30 Litern Altöl. H. war bedient und gab Ruhe. Kollege St. fand es witzig, mir ein zweites Vorhängeschloß ans Spind zu machen. Das war mit einem Bolzenschneider rasch beseitigt (kostete nur ein bißchen Zeit, das Teil aus der Werkzeugausgabe zu holen); seinem anfänglichen Grinsen und der enttäuschten Miene wegen der raschen Beseitigung des Problems sah ich an, daß er der Täter war. Meine Rache kostete mich tags darauf eine Flasche Bier: Der Bauschlosser schweißte autogen mit viel Vergnügen St.s Spindtüre zu: von oben bis unten. Auch St. war bedient. Von diesem Tage an spielte mir keiner mehr einen Schabernack, es hieß: „Paß op, der löß sich nix jefalle!“ (Paß auf, der läßt sich nichts gefallen!) Fein beobachtet...
wieder ganz hervorrgagend erzählt. Du hast das Zeug zum Schriftsteller. Auch die vorletzte Geschichte mit dem 'is was?' war erstklassig wiedergegeben. Übrigens erinnerte mich die Situation ein bißchen an meine Zeit bei der Bundeswehr. Das Ausbildungsziel war erreicht, hieß es damals, wenn der Soldat zu jeder Tageszeit und in jeder Situation schlafen konnte - z.B. am Steuer eines LKWs (natürlich in den Fahrpausen), im Panzer auf dem Platz des Richtschützen, während der Fahrt mit dem Fahrschul-LKW auf der Ladefläche, usw.. Es gab natürlich auch bequemere Plätzchen wie z.B. die Wäschekammer im Sanbereich, oder ein Tarnnetz, das im Aufbau eines Funkkoffers lag.
wieder ganz hervorrgagend erzählt. Du hast das Zeug zum Schriftsteller. Auch die vorletzte Geschichte mit dem 'is was?' war erstklassig wiedergegeben. Übrigens erinnerte mich die Situation ein bißchen an meine Zeit bei der Bundeswehr. Das Ausbildungsziel war erreicht, hieß es damals, wenn der Soldat zu jeder Tageszeit und in jeder Situation schlafen konnte - z.B. am Steuer eines LKWs (natürlich in den Fahrpausen), im Panzer auf dem Platz des Richtschützen, während der Fahrt mit dem Fahrschul-LKW auf der Ladefläche, usw.. Es gab natürlich auch bequemere Plätzchen wie z.B. die Wäschekammer im Sanbereich, oder ein Tarnnetz, das im Aufbau eines Funkkoffers lag.
Hallo "Kaputnik",
danke für Deine lobenden Worte! Wie ich schonmal sagte: Schreiben ist 3% Begabung und 97% Handwerk. Da ich seit Jahrzehnten nebenberuflich als Autor tätig bin, paßt das mit dem Handwerk.
Ja, was Du über die Bundeswehr schreibst, hat mir sinngemäß ein guter Bekannter erzählt. Die hatten sogar eine selbstgebaute kardanische Aufhängung für die Kaffeemaschine im Panzer! (Man darf natürlich nie daran denken, zu welchem Zweck diese Fahrzeuge gebaut sind...!) Und das mit dem Schlafen kenne ich ähnlich von der alten DB: irgendwann erzähle ich die Geschichte vom 14-Stunden-Nachtdienst und der Luftmatratze. Irgendwie sehe ich Parallelen zwischen der früheren DB und der BW - bei beiden war es ratsam, die Wissenschaft des TTV zu beherrschen (Tarnen, Täuschen, Verp...).
der kleine Kurt: der löß sick nix jefalle was hab ich eben Tränen gelacht, 30 Liter Altöl und ein zugeschweißter Spind
Danke!
Micha
Hallo Micha,
freut mich, daß Du was zu Lachen hattest; ich sag's doch: Spaß muß sein! Ja, im BW Nippes ging es hart zur Sache, ohne irgendwelche Fragen nach den Folgen. Augen zu und drauf... Der Kollege hat damals seine zugeschweißte blecherne Spindtür mit der Flex geöffnet - neuwertig sah die danach nie mehr aus.
So, und nun mache ich mich an die nächste Geschichte. Die wird etwas länger, weshalb ich noch nicht genau sagen kann, wann sie hier zu lesen sein wird.
Hallo Kurt, solchen "Spass" hatte ich auch kennengelernt, nur ich fühlte mich dabei damals nicht gut und war froh, dass ich eher in Ruhe gelassen wurde und dass ich froh war, um die "Tradition" des Versaufens des ersten Lohnes nach der Lehre herumgekommen zu sein. Ich hatte in den 80er auf Montage im Abriß gearbeitet (Mo-Fr jeweils 12 Stunden), damals meistens Bezirk Halle und Magdeburg (in der Stadt Halle, Buna, Bitterfeld, Piesteritz, Teutschenthal), aber auch mal in Dresden und der Lausitz. Es gab damals auch Originale, aber mit der Bahn hatte das eher sekundär zu tun. Das waren meist Gleise in Großbetrieben, die da lagen und auch entsprechend bedient wurden, aber nicht von uns. Und bis ich ein Erlebnis so aufbereitet hab wie du sie einfach aufs Papier bringst, das dauert bei mir Stunden....
Im Moment hab ich nicht die Muße und den Kopf frei dazu.
nur kein Streß! Diese Schreiberei ist reine Übungssache, je mehr Du in die Tastatur kloppst, desto schneller und leichter geht es mit der Zeit. (Erfahrung eines alten Knackers.)
hier wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte:
auf dem Weg zur Arbeit fuhren auch immer behinderte Menschen (mongoloid) im Bus mit, sie waren unterwegs zur einer großen Behindertenwerkstätte.
Eines morgens bekam ich dann mit, wie sie Zukunftspläne schmiedeten. Die eine wollte Bäckerin werden, der andere Schmied, der dritte Schlachter.
Dann wollte sich grade ein junger Mann zu Wort melden, als eine kleine Frau sagte "Ach, du kannst ja nicht mitreden, du willst ja studieren." Der Angesprochene bestätigte dies freundlich nickend.
Ich wußte nicht so recht, wie mir war. Da waren diese erkennbar behinderten Menschen, die so munter diskutieren, aber eben völlig an jeder Realität vorbei. Und als Krönung dann die Aussage des einen, dass er studieren will.
Irgendwie habe ich sie um ihren schönen naiven Glauben beneidet, aber es war doch auch irgendwie traurig.
Nun, für mich sind das eben "Gottes besondere Kinder".
Menschen mit Down-Syndrom können heutzutage mit 65 Jahren in Rente gehen.
Sie sehen zwar "behindert" aus, auf die Intelligenz hat der Gendefekt aber manchmal relativ geringe Auswirkungen. Viele sind in der Lage eine normale Ausbildung zu absolvieren. Also weder zum Lachen noch zum Weinen.
Gezwungen zu sammeln, aber die Anlage kommt. Nur eine Frage der Zeit! :D
wir haben ja jetzt die "besinnliche" Zeit, und ich dachte, man kann auch mal an etwas anderes denken als an lustige Geschichten aus der guten alten Zeit. Das Leben wirft uns manchmal ganz schön hin und her, mancher steht gut da, und andere wirft es aus der Bahn.
Natürlich hast Du Recht, es passte nicht zum Thema "Spaß im Bahnbetrieb".
nach all den Werkstattstorys möchte ich wieder zum Fahrdienst zurückkommen; hier ereigneten sich zahlreiche Begebenheiten, die des Berichtens wert sind. Wenn ich in meinen Erinnerungen krame, stelle ich fest, daß es nicht leicht ist, zu entscheiden, was jetzt und was später erzählt werden sollte. Also mache ich weiter wie bisher: Einfach kommen lassen.
Geschichten vom „Wurstmarkt-Expreß“
Alljährlich findet in Bad Dürkheim, nahe Ludwigshafen und Mannheim in einem großen Weinanbaugebiet gelegen, der traditionsreiche „Wurstmarkt“ statt; nächstes Jahr, 2014, vom 12. – 16. und 19. – 22. September. Auf dieser Veranstaltung spielen die Weine der Region naturgemäß wichtige Rollen und umfangreichere Verkostungen finden nicht zuletzt im größten Weinfaß der Welt statt, dem Restaurant namens „Dürkheimer Riesenfaß“ – sehens- und besuchenswert. Das Essen kommt auch nicht zu kurz, was dem Namen der Festivität entspricht, etliche Imbißbuden locken den Besucher zusätzlich an. Dies als Information für diejenigen, welche von den nachfolgenden Berichten inspiriert werden sollten…
Vorwort In den Jahren 1976 und 1977 bot die DB eine von uns Lokführern „Besäufniszug“ genannte Direktverbindung von Köln nach Bad Dürkheim an. Die Reisenden brachten als Selbstversorger bereits etliche Kästen Bier und Wein mit; im Zug bestand, soweit ich weiß, zusätzliche Bewirtung. Auf jeden Fall gestaltete sich die Reise für die Großzahl der Fahrgäste zunehmend bewußtseinsgetrübt…
Modelleisenbahner interessieren sich gewiß auch für technische Hintergründe. Deshalb beginne ich vor dem Geschichtenerzählen heute mit:
Ein bißchen Bremstechnik Den oben genannten, alkoholisch basiertem Umstand geschuldeten magentechnischen Problemen – ich möchte nicht deutlicher formulieren – begegnete die DB mit dem Einsatz alter Schnellzugwagen aus der Reichsbahnzeit, die damals noch recht zahlreich vorhanden waren; bei uns im Rangierbahnhof Deutzerfeld standen etliche davon in der Abstellgruppe und harrten des Einsatzes; vierachsige klotzgebremste Drehgestellwagen mit Faltenbalgübergängen (ich hab‘ deren Bezeichnung vergessen, ich glaube, irgendwas mit Bym) und der trickreichen HiK-Bremse, zu der ich kurz etwas sagen muß: HiK stand für „Hildebrand-Knorr“. Das war eine mehrlösige Bremse – soweit in Ordnung. Aber: Die Steuerventile arbeiteten noch mit richtigen Kolben und nicht, wie bei der modernen KE-Bremse (Knorr-Einheitsbremse), mit kurzhubigen, leicht ansprechenden Membranelementen. Daraus resultierte deutlich langsameres und grobschlächtigeres Ansprechen als das der KE-Bremse, die ihrerseits – speziell bezogen auf Klotzbremsen – auch ganz schön rabiat zupackte und regelungsbezogen der Schweizer Oerlikon-Bremse deutlich unterlegen war. Wie die KE- besaß auch die HiK-Bremse die Stellung „R“ mit Hochabbremsung – und damit wurde die Sache besonders spannend: Lange klotzgebremste Züge (mit z.B. 52 – 60 Achsen) hatten „endlose“ Reaktionszeiten, was speziell für Lösevorgänge galt: einmal zugepackt, zogen sie unheimlich lange nach und dies führte dazu, daß, wenn man noch keine hinreichende Übung besaß, der Zug mit dem Lokführer fuhr statt umgekehrt, soll heißen: Anvisierte Geschwindigkeitsverminderungswerte und/oder Bremszielpunkte gingen völlig daneben. Erschwerend kam hinzu: Zielbremsung an einen Bahnsteig, langer Zug, Bremszielpunkt lag daher meist kurz vor dem (Halt zeigenden, logisch!) Ausfahrsignal. Hatte man erstmal alles richtig gemacht und glaubte, es passe, fiel bei 55 km/h die Hochabbremsung* ab und der Zug begann heftig zu schieben, erzeugte kurzzeitig das Gefühl, die Bremse löse komplett aus. Ohne genaue Kenntnis der Zusammenhänge und entsprechende Technik im Umgang mit dem Führerbremsventil erfolgte die Fehlreaktion, den Leitungsdruck zu senken (= Erhöhung der Bremskraft) – und der Zug „biß zu“, kam mit einem heftigen Ruck vorzeitig zum Stehen; die HiK-Bremse reagierte aufgrund ihrer Kolben-Steuerventile besonders träge und erschwerte durch ihre Langsamkeit genaues Fahren. Wenn man Pech hatte, stand der letzte Wagen (oder gar mehrere) nicht am Bahnsteig. Ich erinnere mich wie gestern an meinen ersten Schnellzug mit 15 Wagen: Am Endbahnhof war ich geschätzte zwei Kilo leichter und total geschafft. Das Biest machte, was es wollte und die in der Fahrschulzeit (auf kurzen Nahverkehrszügen) erlernte Bremstechnik „1 bar Drucksenkung, schau‘ auf das Ziel, schau’auf den Tachometer, ggf. auf 0,5 bar lösen oder in die Vollbremsung“ funktionierte gar nicht: Bei 1 bar haute die Bremse tierisch rein, und weil sie ja von vorne nach hinten wirkte (Fortpflanzung der Drucksenkung), liefen die Waggons herzhaft auf, die Geschwindigkeit fiel rapide, Lösevorgänge dauerten „ewig“, der Zug machte, was er wollte – kurzum, es war zum Verzweifeln. Ein alterfahrener Kollege gab mir schließlich den weisen Rat: „Jung‘, für solche Zügen merk‘ dir: Kleiner Bremsdruck, langer Bremsweg – außer bei Gefahr, da brems‘ mit allem, was drin ist. Arbeite normalerweise mit 0,5 bar Drucksenkung, gib ihm Weg, und denk‘ an das Abfallen der Hochabbremsung, kalkuliere ein, daß sich dadurch der Bremsweg verlängert!“ Nun hatten wir damals sehr viele dieser langen und schweren Schnellzüge mit (KE)-Klotzbremsen in den Dienstplänen sowie disponibel und ich konnte fleißig üben, die Ratschläge des erfahrenen Kollegen Stück für Stück umsetzen, der mich sogar einige Wochen unter seine Fittiche genommen und mir eine richtige Zusatzausbildung verpaßt hatte. Nochmals spannender waren die „internationalen Mischungen“, aus Wagen verschiedener Bahnverwaltungen gebildete Reisezüge. Ein Zug mit 15 Wagen („60 Achsen“, sagt der Eisenbahner), ausschließlich Klotzbremsen, Waggons der DB (KE-Bremse), FS (mehrlösige Westinghouse, Charakteristik irgendwo zwischen KE und Oerlikon) und SNCF (Oerlikon-Bremsen) war eine äußerst heikle Kombination, die „liebevolle“ Zuwendung, höchste Konzentration und Erfahrung benötigte. Als ich nach zahlreichen Fahrten mit derlei „Brocken“ und den Tips des alten Profis die Sache im Griff hatte, machte es einfach nur noch Spaß, mit diesen schweren, teilweise rund 700 und mehr Tonnen wiegenden Zügen „zu spielen“, sie exakt und butterweich auf Geschwindigkeiten und Halteplätze zu dirigieren – noch heute bin ich dem netten alten Kollegen dafür dankbar! Ach ja – lang‘ ist’s her…
*Stichwort „Hohe Abbremsung“: Die Wirksamkeit der Klotzbremse sinkt mit steigender Geschwindigkeit; aus diesem Grunde gaben die sog. Achslagerbremsdruckregler im hohen Geschwindigkeitsbereich erheblich höhere Druckwerte über das Steuerventil vor. Bei fallender Geschwindigkeit < 55 km/h erfolgte starke Reduzierung des C-Drucks (Bremszylinder), um das Überbremsen infolge Zunahme der Reibwerte Bremsklötze > Radreifen zu verhindern.
Die Hinfahrt Aus unerfindlichen Gründen weiß ich heute noch die Zeit des Dienstbeginns für den 1976er „Wurstmarkt-Expreß“: 5:23 Uhr. Die „krumme“ Uhrzeit ergab sich aus der vorgeschriebenen Dauer der Vorbereitungszeit V1 an der E 110, Fahrt an den Zug, dort bremstechnischer Vorbereitungsdienst, Entgegennahme zusätzlicher Fahrplanunterlagen; man hatte wegen der Zuglänge (14 der genannten alten Wagen) großzügig kalkuliert: planmäßige Abfahrt aus dem Rangierbahnhof Köln- Deutzerfeld war 6:13 Uhr. Und die Loknummer ist mir ebenfalls in Erinnerung: Es war die 110 252, ein Klassiker der zweiten Bauserie, mit den frontseitigen Doppellampen (rot/weiß übereinander in gemeinsamem Gehäuse) und dem elektromechanischen Schaltwerk NU 28 H mit Überschaltwiderstand, das beim Rauf- oder Runterschalten stufenweise dieses charakteristische Geräusch „da-klacke-di-klack“ (Vor- und Hauptkontakt) erzeugte. Die Lok kam frisch aus der Waschanlage, ihr ebenfalls klassisches dunkelblaues Farbkleid glänzte in der Morgensonne – schön, machte Laune…!
Planmäßige Abfahrt Deutzerfeld, der Aufsichtsbeamte grüßte, während ich vorbeifuhr, den „bleischweren“ Zug langsam auf die 40 km/h brachte, die Steigung zum Personenbahnhof Köln-Deutz erkämpfte und gleich den ersten Betriebshalt zur Aufnahme von Reisenden dortselbst einlegte … au verflixt: der Zug bremste wie erwartet träge, zog „klebrig“ nach, reagierte nur stark verzögert auf die „Zehntel-bar-Tricks“ mit dem Führerbremsventil Knorr D-5. ‚Warte nur, dich krieg‘ ich schon in den Griff‘, dachte ich. Ja, klappte dann auch. Köln-HBf weist Richtung Westen eine leichte Steigung auf, Einfahrt mit Hp2/30 km/h, das bedeutete: Alle Zwischen-Deckungssignale auf Kennlicht, vorziehen bis Ausfahrsignal. Meine 10er hatte zu tun, dann abschalten, kurz ausrollen lassen, mit kleinstmöglicher Stufe anbremsen (Langnut vorne, darüber nach vorn hinaus, das ergab eine Drucksenkung von gerade mal 0,15 bar – Aufschreien der HiK-Bremsen und der Zug stand. Ruckfrei, aber etwas früher als beabsichtigt. Langsam spürte ich, was das träge „Züglein“ mochte und was nicht; blieben nur noch die Reaktionen bei voller Geschwindigkeit und Abfall der Hochabbremsung. Erster Halt aus voller Geschwindigkeit (planmäßig 140 km/h) war Brühl, ein Bahnhof, auf dem sonst maximal Eilzüge Station machten, die Bahnsteiglänge betrug 300 Meter, die meines Zuges mit Lok rund 350 … ich hatte mit dem Zugführer abgesprochen, auf Tuchfühlung bis ans Ausfahrsignal am Bahnsteigende vorzuziehen, er würde im letzten Wagen (der nicht an den Bahnsteig kam) aufpassen und sein als Zugführer ausgebildeter Schaffner auf seine Weisung hin das Zp9-Lichtsignal bedienen. So lief das denn auch ab, doch zuvor hieß es, das „HiK-Monster“ passend hinzujonglieren. Vorsicht ist die Mutter der Eierkiste, ergo bremste ich frühzeitig an, kleiner Druck, langer Bremsweg – der Zug reagierte langsam, aber schön definiert. Üblicherweise fuhr ich mit schweren Schnellzügen so, daß die Geschwindigkeit bei Erreichen des Bahnsteiganfangs 60 km/h betrug; damit ging es noch halbwegs flott voran, schloß aber jegliches Risiko aus. In Brühl machte ich’s – wie gesagt – vorsichtig mit gut 40 km/h am Bahnsteiganfang, weil ja wirklich praktisch jeder Meter wichtig war: Bei 55 km/h war die Hochabbremsung abgefallen, wie üblich begann der Zug zu schieben, allerdings heftiger als erwartet … aha, merken, immer dran denken … die „Schwammphase“ ging über in berechenbare Reaktion, jawoll, jetzt über „Langnut vorne“ hinaus, Druckerhöhung von 4,5 auf 4,7, dann auf 4,85 bar … paßte, der Zug stand haarscharf vor dem Hp1 zeigenden Ausfahrsignal. ‚Puh, das ist vielleicht ein Teil‘, dachte ich. Ich will’s nicht überdehnen: Ab Bonn HBf wußte ich, wie mein Wurstmarkt-Expreß behandelt werden wollte und der Rest der Fahrt verlief – was mich und den Zug betraf – harmonisch; in den Wagen machten die ersten Bier- und Weinflaschen die Runde, der bordeigene DJ spielte lautstark schaurige Schlagermusik, wie ich bei den Halten in Bad Godesberg (auch ein Jongleurbahnsteig), Remagen, Andernach, Koblenz, Bingerbrück und Mainz hören konnte. Ab Koblenz mischte sich zunehmend alkoholisch beeinflußter Gesang zur Musik und wie mir der Zugführer über’s Zugtelephon sagte, waren etliche Reisende bereits veilchenblau … am noch recht frühen Morgen … Besäufnis-Expreß…
Es war gegen 10:00 Uhr, als ich mit meinem Wurstmarkt-Expreß den Bahnhof Frankenthal erreichte. Der liegt kurz vor Mannheim: Über Oggersheim und Ludwigshafen erreicht man die Stadt mit dem herrlichen Schloß des Kurfürsten Karl-Theodor von der Pfalz. Doch zurück nach Frankenthal. Hier stand ein Rangierer bereit, der meine 110er abkuppelte und mir sagte, ich solle bitte vorziehen und dann nach Gleis 5 umsetzen, die Lok dort abstellen und sichern. „Willst du mitfahren nach Dürkheim?“, fragte er noch. „Ja klar!“ gab ich zurück, rüstete meine 110 252 ab, drehte die Handbremse fest, hängte meinen schwarzen DB-Kittel an den Kleiderhaken, verschloß alle Türen, deponierte den Schlüssel am üblichen Ort und bestieg den Zug. Der Zugführer hatte mir bereits zugewunken, damit ich den Wagen mit dem Dienstabteil rasch finden sollte. Draußen wurde eine V 100 an die 14 Wagen gekuppelt, die den Expreß über Freinsheim – wo Kopf gemacht werden mußte – nach Bad Dürkheim schleppen sollte. Das konnte sie nur unter Aufbietung der letzten Reserven und im kleinen Gang des Vorgelegegetriebes, was die Höchstgeschwindigkeit auf 65 km/h begrenzte. Für die romantische Nebenbahn wäre das schnell genug gewesen, doch erreichte die V 100 bei weitem nicht dieses Spitzentempo, das Röhren des unter Vollast arbeitenden Dieselmotors war selbst auf die Entfernung von neun Wagen hörbar…
Kurze Zeit später: Einfahrt in Bad Dürkheim – der Kollege auf der V 100 hatte sich tapfer gehalten und brachte den Zug sauber zum Stehen. Die angesäuselten Volkesmassen verließen den Zug und drängten in die ausgeschilderte Richtung zum Wurstmarkt. Das Zugpersonal und ich ließen uns Zeit, um nicht in diesem Pulk mitmarschieren zu müssen und zogen einen Schlenker durch den hübschen Ort. Ich entdeckte eine interessante Straßenbahn, die „Rhein-Hardt-Bahn“, die Bad Dürkheim mit Mannheim verbindet und mit ihren damaligen dreiteiligen DüWag-Triebwagen durch die kleinen, beschaulichen Weinorte fuhr. Pläne für den Tagesablauf gingen mir durch den Kopf: Regulär hätte ich in Frankenthal eine Tagesübernachtung gehabt (Freizeit, Ruhezeit, wegen der extrem langen Dienstdauer), doch ich war jung und unzerstörbar, betrachtete die Tour auch als Abenteuer mittlerer Größe; eventuell konnte ich am Spätnachmittag auf der Lok noch ein wenig der „Augenpflege“ frönen. Nach dem gemeinsamen Rundgang trennte ich mich von den Kollegen des Zugpersonals und strebte dem Wurstmarkt zu … verlockende Bratwurstdüfte verdeutlichten mir, daß ich seit dem unchristlich frühen frugalen Frühstück zu Hause nichts mehr gegessen hatte. Zugegeben: Es wurden im Verlaufe von zwei Stunden drei Würste … nun ja: Wurstmarkt…
Und wie es weiterging, lest Ihr im nächsten Teil, weil’s am Stück zu lang würde. Die Rückfahrt nämlich wurde tatsächlich ein reales Abenteuer…
Zehn Stunden Zeit Ankunft in Frankenthal war gegen 10:00 Uhr gewesen, die Rückfahrt nach Köln sollte ungefähr 20:00 Uhr starten – ich bitte um Verständnis, daß ich nur noch die Etwazeiten im Kopf habe: es sind seit jenem Tag gut 37 Jahre vergangen… Ich hatte auf dem Bad Dürkheimer Wurstmarkt ganz stilecht drei Würste verspachtelt und überlegte, was zu tun sei. Zurück nach Frankenthal und am hellen, sonnigen Tag wie dispositionsseitig vorgesehen ins Übernachtungsgebäude der Busfahrer? Nee, dazu war ich mit meinen damals gerade gewordenen 28 Lebensjahren viel zu aktiv. ‚Die Straßenbahn!‘ schoß es mir durch den Kopf. Ab zum Bahnhofsvorplatz – und, Glück muß man haben, dort stand einer der großen DüWag-Triebwagen abfahrbereit; wenige Minuten später ging’s los. Es war eine schöne Fahrt durch Dörfer und Weinberge nach Mannheim, das übrigens für Straßenbahnfreunde ein wahres Eldorado darstellt(e?): Damals zumindest trafen sich dort die Rhein-Hardt-Bahn, die OEG und die Luwigshafener Straßenbahnen mit denen der Stadt Mannheim. Zahlreiche unterschiedliche Triebwagenbauarten machten jede Betrachtung spannend. Und für Kulturbeflissene empfehle ich die Besichtigung des bereits erwähnten pfalzgräflichen Schlosses und des alten Mannheimer Stadtkerns, dessen Straßen schachbrettartig angelegt sind und wie teilweise in New York „Codebezeichnungen“ und keine Namen aufweisen: Statt beispielsweise „Hauptstraße“ heißt es Q7… Ja, Mannheim und seine weitere Umgebung empfehlen sich durchaus für einen Wochenendtrip.
Zeit, unendlich viel Zeit, zehn Stunden können verdammt lang werden, auch wenn es einiges zu sehen gibt. Der Nachmittag fand mich kaffeetrinkenderweise in der Kantine Mannheim HBf, an dessen Rückseite etwas abgelegen gebaut. Ich schaute auf die Uhr: 15:30 … wat nu? Nochmal zurück zum Hauptbahnhof, in der dortigen Bäckerei eine Kleinigkeit als Wegzehrung für die Rückfahrt gekauft. Zum Bahnsteig Gleis 1 – Zufall ohne Ende: Dort stand ein Nahverkehrszug nach Mainz, ich stieg ein, um nach Frankenthal zurückzugelangen; ganz frech auf Dienstfreifahrt.
In Frankenthal angekommen, ging ich nach Gleis 5 zu meiner Lok und deponierte den Proviant für die Rückfahrt im Führerraum 2, die neue Fahrtrichtung. Ein bißchen dösen? Hmmm – nein, ich war viel zu aufgekratzt, denn ich liebte derlei Sonderdienste, wo man oft genug „stehend freihändig“ improvisieren mußte. So wie diesmal: In der bibliotheksartigen Buchfahrplansammlung fehlte ausgerechnet das „Z-Linien-Verzeichnis“ (= Fahrzeiten und Geschwindigkeiten in stündlich getakteter Reihenfolge für Sonderzüge) mit dem Streckenteil Mannheim – Mainz. Rein nach Vorschrift hätte ich nun „von Pontius zu Pilatus“ telephonieren müssen, um ein Exemplar dieses Fahrplans zu bekommen. Tat ich aber nicht, es hieß eben improvisieren, nämlich stillhalten und nach dem „Buchfahrplan im Kopf“ fahren – alles eine Frage der Streckenkunde und die Strecke nach Mannheim über Worms kannte ich wie meine Westentasche, da ich sie häufig befuhr und vor allem, weil ich sie gerne fuhr. Dann merkt man sich alles leichter. Ich brachte die erforderlichen Buchfahrpläne (bis auf das fehlende Z-Linien-Verzeichnis) zum Führerraum 2, studierte und markierte die LA (Verzeichnis der Langsamfahrstellen), beschriftete den Indusi-Schreibstreifen und machte einen Rundgang um die Lok. Alles bestens. Der Fahrdienstleiter hatte mich gesehen, kam ans Fenster und rief mir zu, ich solle doch mal zu ihm raufkommen. Machte ich. Der freundliche Kollege hatte gerade Kaffee gekocht und bot mir davon an, was ich gerne annahm, denn der Kantinenkaffee war eher dem Typus „Spülwasser“ zuzurechnen gewesen. Wir unterhielten uns und anläßlich der zahlreichen Zugfahrten bediente der Fahrdienstleiterhelfer das alte, umfangreiche Hebelstellwerk – ich hatte nie zuvor Gelegenheit gehabt, sowas in Aktion mitzuerleben. War richtig spannend, zumal der FDL mir auf meine Bitte hin einiges erklärte.
Gegen 18:00 Uhr verzog ich mich auf meine 110 252, rüstete sie auf, um jederzeit startklar zu sein, führte die Bremsprobe durch und machte es mir gemütlich – doch ein wenig der Ruhe frönen…
Rückfahrt mit Hindernissen Endlich – ungefähr zwanzig Minuten vor Acht kam mein Wurstmarkt-Expreß, von einer lastbedingt kurz vor dem Exitus stehenden V 100 mühsam gezogen, und hielt in Gleis 4. Zahlreiche Fahrgäste prosteten aus den offenen Fenstern mit Bier- und Weinflaschen dem leeren Bahnsteig zu. Die V 100 war abgehängt, sie fuhr in ein Ausziehgleis, das Form-HS-Signal für mich ging auf Sh1 und ich zog vor bis über die zuständige Weiche, Halt, Führerraumwechsel (Rückwärtsfahren mit Elloks war strikt verboten), über Rangierfunk kam der Auftrag „Nach 5 beifahren!“ und ich setzte meine 110er an den Zug, wo der Rangierer sie anhängte, die 5- und 10-bar-Luftleitungen, UIC-Kabel sowie die Zugsammelschiene („Heizung“) kuppelte und mir den Auftrag gab: „Heizung ein!“ Vereinfachte Bremsprobe, Fertigmeldung. Über den Rangierfunk meldete sich der nette Fahrdienstleiter: „Ihr seid fertig, gut! Lokführer, paß auf: Ich lasse euch nach Kreuzung mit D xxx vor den TEE, der hat fünf Minuten plus und kriegt euch bis Mainz nicht, wenn du gut dran ziehst.“ „Verstanden, mache ich!“ Der genannte Schnellzug rauschte durch den Bahnhof, verschwand Richtung Mannheim. Kurz darauf ging das Ausfahrsignal auf Hp2, Abfahrauftrag, Anfahren mit Stufe 6, kurz nach hinten am Zug entlangschauen, alles in Ordnung, noch ein, zwei, drei Fahrstufen, kurz dem Fahrdienstleiter zugewinkt, Fenster zu, hinsetzen, Zug auf 40 km/h bringen … dachte ich. Mein rund 350 Meter langer Zug kreuzte gerade die durchgehenden Streckengleise, als der Hauptluftleitungsdruck rasch absank, die Motortrennschütze knallend abfielen und der Zug mit heftigem Ruck zum Stehen kam – und beide Streckengleise blockierte! Irgendwer hatte die Notbremse betätigt, am denkbar unpassendsten Ort: Frankenthal war zu, nichts ging mehr. Großes Gezeter über Zugbahnfunk, binnen weniger Minuten begann es sich auf der vielbefahrenen Hauptstrecke zu stauen: Güter- und Reisezüge – und der Trans-Europ-Expreß war im „Anflug“. Das Zugpersonal stand vor einer schwierigen, unter enormem Zeitdruck auszuführenden Aufgabe: Den Wagen ermitteln, in dem die Notbremse betätigt worden war. In diesen „alten Kisten“ befand sich das seilzugbetätigte Notbremsventil nämlich an individuell wechselnden Einbauorten: mal im Seitengang (vorne, hinten oder mittig), mal in einer der Toiletten am jeweiligen Wagenende, mal irgendwo oben, mal irgendwo unten. Obwohl Zugführer und Schaffner richtig gut drauf waren, dauerte es wegen der geschilderten Erschwernisse rund 20 Minuten – endlich stieg der Druck in der Hauptluftleitung an; bis alle Bremsen gelöst waren, verging allerdings noch einige Zeit. Über das Zugtelephon (das als Nachrüstung der Waggons zum Glück vorhanden war) erhielt ich schließlich den Abfahrauftrag. Nachdem ich den Weichenbereich hinter mir hatte, hieß es „Gas geben“ und ich brachte, so rasch die 110er es zuließ, den Zug auf Tempo. „Tüüüüt!“ Die Betriebsleitung war am Zugbahnfunk (ZBF) und erkundigte sich nach dem Status des Zuges. Ich konnte den Mann beruhigen, als ich ihm sagte, ich sei auf zulässiger Geschwindigkeit, alles laufe normal. „Dann wollen wir hoffen, daß die Leute jetzt die Finger von der Notbremse lassen!“, meinte der Kollege von der Betriebsleitung und ergänzte: „Lokführer, bitte spitz fahren, wir können dich erst in Bodenheim auf die Seite nehmen, um den TEE vorbeizulassen. Worms wäre riskant, da könnten die Besoffenen aussteigen, über die Gleise laufen und sich in Gefahr bringen. Deshalb Bodenheim, da stehst du schön im Dunkeln in der Prärie.“ Kurzes Lachen, die Situation hatte sich entspannt, ich bestätigte, den Zug spitz mit den zulässigen Geschwindigkeiten zu fahren. Und mein Wurstmarkt-Expreß lief mit 140 km/h. „Spitz“, das hieß, Beschleunigungsvorgänge so rasch wie möglich durchzuführen und Geschwindigkeitssenkungen so knapp wie möglich per Bremse zu regulieren, statt weitestgehendes Ausrollen anzustreben (wirtschaftliches Fahren), die Senkungen mithin per Bremsungen anzugehen. Das sparte Zeit, kostete aber mehr, entsprach dennoch den Maximen der alten Bundesbahn: Sicherheit, Pünktlichkeit, Wirtschaftlichkeit – in dieser Reihenfolge. Durchfahrt Worms voraus, Streckenhöchstgeschwindigkeit 90 km/h, durchgehende Druckluftbremse aktivieren, kleiner Druck, langer Bremsweg, auslösen, Nachzieher – und paßte: 90 km/h. Ich mußte wieder an den netten, alten Kollegen denken, der mir die Kniffe beigebracht hatte… Ohne seine geduldigen Unterweisungen hätte das nicht so geklappt. Hinter Worms wieder rauf auf 140 km/h … und laufen lassen. Dann, etliche Kilometer weiter, Einfahrvorsignal Bodenheim Vr2, „spitz“ runter auf 40 km/h, Schlängelfahrt durch Weichen und kurvige Gleise an den äußersten Rand des kleinen Bahnhofs, in ein Gleis, das sonst nur der Überholung von Güterzügen diente, keinen Bahnsteig besaß und nicht beleuchtet war. Das war von Betriebsleitung sowie Fahrdienstleiter klug kalkuliert: An einem erleuchteten Bahnsteig wären möglicherweise einige „Blaumänner“ ausgestiegen. Aber man hatte sprichwörtlich die Rechnung ohne den Wirt gemacht… Knapp vor dem Ausfahrsignal hielt ich meinen Expreß an, schaute nach hinten und stellte fest, daß ich den Zug empfangsgebäudeseitig nur einige Wagen weit übersehen konnte: das Gleis lag in einer Kurve. Der Zugführer kam an meine Lok und wir unterhielten uns über den Vorfall in Frankenthal. Der TEE jagte vorbei; der Zugführer wollte am Zug zurückgehen, als folgende Lautsprecherdurchsage ertönte: „Achtung Zugpersonal 16xxx, noch Überholung IC xxx, Abfahrt voraussichtlich um xx.xx Uhr!“ Nun ja, Verspätung hatten wir bereits genug, da kam es auf die paar Minuten auch nicht mehr an. Es war Abend und draußen finster. Ich schaute einfach so aus dem offenen Fenster der bahnhofsabgewandten Seite auf den Sternenhimmel und hörte raschelnde, knacksende, leise Geräusche – da liefen Personen über das ans Gleis angrenzende Stoppelfeld. Dann der Satz: „Meeeensch, ist das ein düsterer Bahnhof!“ Einige Alkoholisierte hatten sich von der Dunkelheit nicht abschrecken lassen, waren aus dem Zug geklettert und auf der Suche nach weiß der Teufel was. Ich mit der zur Lok gehörenden Akkulampe „vom Bock“ runter, den Leuten zugerufen, sie sollten sofort wieder in den Zug einsteigen, an den Signalfernsprecher, den Fahrdienstleiter verständigt, der seinerseits per Außenlautsprecher das Zugpersonal informierte. Mit vereinten Kräften sammelten wir unsere verlorenen Schäflein ein, die der Zugführer ermahnte, derlei Blödsinn zu unterlassen, was er bewundernswert geschickt und diplomatisch durchführte und es schaffte, die Alkoholnebel zu durchdringen. Jedenfalls kamen die insgesamt fünf Männer zur Vernunft, kletterten in den Zug, und ich wieder auf meine Lok. Endlich: Ausfahrt Hp2, Abfahrauftrag und es ging weiter. Die folgenden Halte in Mainz HBf, Bingerbrück, Koblenz HBf, Andernach und Remagen verliefen ohne besondere Vorkommnisse; offensichtlich waren die „Blauen“ mittlerweile ermüdet. Im Zug war es, soweit ich das während der Aufenthalte von der Lok aus hören konnte, bemerkenswert ruhig: Der Wurstmarkt-Expreß, offiziell „Der klingende Rheinländer“ genannt, wirkte nun wie ein ganz normaler Reisezug.
Halt in Bonn HBf. Still und gesittet, wenn auch teils arg schwankend, stiegen zahlreiche Fahrgäste aus. Das Zugpersonal begann Stück für Stück die Türen zu schließen (eine pneumatische Zentralschließanlage fehlte den alten Wagen), als am ersten Waggon, direkt hinter der Lok also, die hintere Türe aufgestoßen wurde. Zunächst sah ich einen Kopf, dann zwei wie betend vorgestreckte Hände, Bauch, nochmals Kopf, Hände … und ein Ruf ertönte: „Ich bin ein Adler!“ – mit flügelartig ausgebreiteten Armen sprang ein Volltrunkener aus dem Zug und landete mit dumpfem Geräusch bäuchlings auf dem Bahnsteig. Glücklicherweise hielt ohnehin ein Bahnpolizist Wache, der sofort für Abtransport und ärztliche Behandlung des Springers sorgte. Zusätzlicher Aufenthalt, weil die Bahnpolizei von mir wissen wollte, was ich von der Lok aus gesehen hatte. Nun ja, Ermittlungen.
Geschafft… Der vorletzte Halt in Brühl, längere Standzeit in Köln HBf, in Deutz fand kein Halt mehr statt, weil der Zug planmäßig in Köln HBf endete und entsprechend abgefertigt worden war. Rangierbahnhof Deutzerfeld – der Kuppler stand schon bereit, er hängte ab, ich zog vor bis hinters Rangierstellwerk, Kopf machen und auf Sh1 zur Meldesäule an der BW-Einfahrt, Meldung bei der Lokleitung, wo der Kollege vom Nachtdienst witzelte, er kenne mich doch noch von gestern … alles klar, Lok abstellen zur Nachschau. Es war Mitternacht durch, Feierabend, nach gut 20 Stunden. Aber Spaß hatte es trotz allem gemacht! Und daß ich die Möglichkeit der Tagesübernachtung fröhlich ignoriert hatte, war schließlich meine ganz persönliche Sache und ging niemanden etwas an; offiziell war der DDV (Dienstdauervorschrift) gemäß Sonderdienstzettel Genüge getan…
eine schöne Geschichte mit vielen interessanten Details! In dem Alter steckt man noch einen ziemlich langen Tag einfach weg. Ich hätte auch nicht auf den "Tagesausflug" verzichtet.
eine schöne Geschichte mit vielen interessanten Details! In dem Alter steckt man noch einen ziemlich langen Tag einfach weg. Ich hätte auch nicht auf den "Tagesausflug" verzichtet.
Und zum Schluß der Adler
Grüße Micha
Hallo Micha,
ja, das war ein langer Tag mit ziemlich viel "Action", sowas kann man wirklich nur in jungen Jahren wegstecken. Klar, als ich damals kurz nach ein Uhr nachts zu Hause ankam, war ich einigermaßen "platt" - aber mehr nicht. Und im Jahr darauf durfte ich den Wurstmarkt-Expreß nochmal fahren. Abermals verzichtete ich auf die Tagesübernachtung und spielte lieber Tourist. Später änderte die DB Laufweg und Personaleinsatzorte des Zuges und der Wurstmarkt-Expreß war für uns Deutzerfelder Geschichte ... Geschichte, die ich an dieser Stelle einfach mal aufarbeiten mußte.
Überhaupt waren diese Sonderdienste zumeist sehr reizvoll, weil man - wie in der Story gesagt - improvisieren und flexibel sein mußte. Voraussichtlich werde ich noch zwei solcher Dienste beschreiben, nämlich den "Blindflug nach Neu-Isenburg" und "Ghostriders on the Weinstraße".
nachdem ich einige PNs zu meinen Geschichten bekam, in denen auch nach dem damaligen angeblichen Defizit der Bundesbahn gefragt wurde, im Folgenden eine kurze Erklärung zum Thema. Ich sehe in diesen Anfragen das höchst erfreuliche Interesse an Zusammenhängen, die damals wie heute in den Medien entweder verschwiegen oder unkorrekt dargestellt wurden und werden. Dies, obwohl wenige Mausklicke genügen, die Fakten im Internet anzusehen...
Finanzielle Situation der ehemaligen Deutschen Bundesbahn Die Deutsche Bundesbahn ... sowas bekommen wir nie wieder! Aus wirtschaftlichen Beweggründen wurden in Jahrzehnten gewachsene, bewährte Strukturen zerstört.
Defizit? Hätte es dies gegeben, wären dann Kapitalträger in den Bahnbetrieb eingestiegen? Nein, die Deutsche Bundesbahn hat kein Defizit gemacht, das waren rein politisch bedingte Ausgaben. Näheres dazu findet man im "Eisenbahnkreuzungsgesetz".
Ferner: Als die DB 1949 gegründet wurde und die kriegsbedingt total marode Infrastruktur übernahm, erhielt sie im Gegensatz zur zerstörten Industrie keine Subventionen sowie zinsfreie Gelder, sondern mußte Kapital zu üblichen Bankzinsen aufnehmen. Damit fing's an.
Ihre Strecken mußte sie selbst bauen und finanzieren; der Konkurrenz (LKW, Bus, PKW) wurde aus Steuermitteln die Infrastruktur (Straßen, Autobahnen usw.) mundgerecht serviert. Aus den Mitteln der Mineralölsteuer wurden und werden Straßenbau und -unterhaltung finanziert. In Ordnung, aber: Jedes Bundesbahnfahrzeug mit Dieselmotor zahlte Mineralölsteuer und eine V 215 ist mit 4 Liter maximalem Spritverbrauch pro Kilometer bei Vollast angegeben! Die Verbrennungsmotor-Fahrzeuge der DB finanzierten folglich die Verkehrswege ihrer Konkurrenz mit.
Daß Kaufzwänge bestanden, die alte DB ihre Fahrzeuge bei der Industrie erwerben mußte und - trotz der vorhandenen technischen Möglichkeiten - nicht selbst bauen durfte, lobbyistische Zusammenhänge die Sache zusätzlich erschwerten, sei nur marginal erwähnt.
Bei derartigen Konstellationen (besonders verquer ist das Eisenbahnkreuzungsgesetz [siehe oben], Google macht's zugänglich) durfte man sich nicht wundern, wenn die alte DB nicht mit offenen Gewinnen glänzen konnte. In der Betriebsdienstausbildung (1970) hat unser Amtslehrer das mal durchgerechnet: Kalkulierte man die politisch/juristisch bedingten Unkosten ins Betriebsergebnis ein, erzielte die DB einen Jahresgewinn von rund zwei Milliarden D-Mark!
Nun ein eklatantes Beispiel für die praktische Auswirkung der Privatisierung, das ich selbst noch mitbekommen habe: Richtung Köln HBf war zwischen Kalscheuren und Köln-Süd in der Höhe des Cargo-BW Köln-Eifeltor ein IC mit Lokschaden liegengeblieben. Früher hätte man eine Lok aus Eifeltor als LZ mit 99er Nummer (eilige Hilfslok) nach Köln-Süd und weiter als Sperrfahrt an den IC gebracht, mithin das Problem in absehbarer Zeit bereinigt. Im aktuellen Fall aber hieß es: "Wir sind Cargo und haben mit DB-Reise & Touristik nichts zu tun!" Ende vom Lied: Die Hilfslok kam dann aus Dortmund...! Aus gegenseitigem Helfen wurde unbeteiligtes Achselzucken.
Oder im Kleinen: Die traditionell knappen Dienstparkplätze am Breslauer Platz (Rückseite Köln HBf) wurden rigide aufgeteilt und mit Beschriftungen versehen: Regio, Fernverkehr, Cargo - und wehe, man stellte sich auf den falschen Platz! Alles gut, alles prima...?
In diesem Forum soll nicht politisiert werden - gut und richtig! Obige Darstellungen sind keine politischen Drehungen, sondern Fakten aus der Geschichte der Deutschen Bundesbahn, ergänzt mit ein wenig "Neuzeit".
Hallo Kurt, also jetzt shreib ich auch mal was zu deinen Beiträgen. Es ist immer wieder schön, wenn Du einen neuen Beitrag einstellst, sehr oft muß ich schmunzeln über die Gag´s die da gemacht wurden. Schön auch, wenn man sich nach alle den Jahren noch an dieses oder jenes erinnert. Eigentlich könnte man sagen, "Du warst ein ganz schlimmer" Bei uns hier ist das aber nicht negativ gemeint, sondern soll einfach heißen, es ist einer, der immer Späße macht, gute Laune hat und auch sonnst recht gewand ist.
Nun komm ich ja nu nicht aus deinem Teil von D.land und habe auch nie was mit der Bundesbahn zu tun gehabt, um so interessanter ist es, dann doch so ein paar Einblicke zu bekommen, wie es damals bei Euch so war, wie das alles so ablief. Tja die Kolegialität und der Zusammenhalt, früher gabs den, auch bei uns unter den Kollegen, heute dürfte das auch so weitestgehend ausgestorben sein. Schön auch Dein letzter Bericht, so hab ich das auch noch in Erinnerung, wie manchmal in der Tagesschau wieder von Millionenverlusten der Bundesbahn gesprochen wurde. Da sah´s aber auch noch sauberer ringsrum aus, sag ich mal. Gruß Carsten
Ps.: mach bloß weiter mit deinen Geschichten
HO 2 Leiter, DR Ep.IV, IB - COM, melden und schalten mit Uhlenbrock, bleibe bei TC9 Gold, Piko A,
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03.12.2013 11:24 (zuletzt bearbeitet: 16.06.2014 17:15)
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