Zitat von Oldie_Kurt im Beitrag #1219 Trotzdem habe ich meinen Beruf geliebt und würde es jederzeit wieder so machen wie früher! Eventuell würde ich ins Ausland gehen, wo Lokführer in der Regel erheblich mehr verdienten (bzw. immer noch verdienen) als hierzulande...
Beste Grüße: Kurt
Hallo Kurt,
ich wäre auch wieder dabei. Und zum Ausland: Es gibt in den Alpen gut funktionierende Bahnen mit bereits seit vielen Jahrzehnten ausgeklügelten Dienstplänen gänzlich ohne Auswärtsübernachtungen. Wir haben in vielem hinterhergehinkt, nicht nur bei der Bezahlung.
Zum Abschluß der ICE-Geschichten noch zwei vom bisher etwas zu kurz gekommenen ICE1, dem ersten wirklichen, in vergleichsweise großer Zahl gebauten Hochgeschwindigkeitszug der DB.
Erlebnisse mit dem ICE, 11. Teil
Problemfall Laubfall Es geschah im Spätherbst 1998, um Ende Oktober und Anfang November herum, wo Nieselregen und Laubfall in unseren Gefilden die Gleise in spiegelglatte Rutschbahnen verwandeln. Wir fuhren damals unter anderem den ICE „Hanseat“: Morgens von Bonn bis Münster, abends von Münster nach Bonn. Die Leerfahrten Köln-Deutzerfeld (wegen der Fahrtrichtung mußte der Zug dort abgestellt werden) am Morgen nach Bonn und jene am Abend zurück nach Köln – für die wir aus betrieblichen Gründen (Gleisbelegung) zunächst nach Bonn-Bad Godesberg fahren mußten, um dort die einigermaßen zeitraubende Wende vorzunehmen, waren der Verwaltung ein ziemlicher Dorn im Auge: Die Kosten…! Tja, wer privatisiert und eine Firma etabliert, welche jeden gefahrenen Kilometer auf ihren Gleisen in Rechnung stellt, ist halt selber schuld… Und einen ICE durfte man nicht alleine lassen: Hätte man ihn nachts in Bad Godesberg stehenlassen, wäre ein „wachhabender“ Lokführer erforderlich gewesen, so ein Kerl, der doch tatsächlich sein Gehalt und die Nacht- und sonstigen Zulagen haben will…! Wäre womöglich noch teurer geworden, so’n Pech aber auch. Doch lassen wir die Politik außen vor.
Es war ein diesig-trüber Abend, als ich in Münster auf meinen ICE1 „Hanseat“ wartete, um ihn nach Bonn und nach der Wende in Bonn-Bad Godesberg zur Abstellung nach Deutzerfeld zu bringen, von wo aus ich Gastfahrt nach Köln HBf und Feierabend hatte; ein Kollege löste mich im Rangierbahnhof ab, um den Zug die Nacht über zu betreuen. Ich stand am Ende der Bahnsteigüberdachung, um nicht die ganze Zeit im Nieselregen zubringen zu müssen, dachte bereits an die adhäsionstechnischen Probleme: Der stets gut besetzte „Hanseat“ führte in aller Regel 13 Mittelwagen, war also ein richtig schwerer Brocken, den die beiden Triebköpfe zu bewältigen hatten. Und weil das Wetter zwischen Hamburg und Münster auch nicht besser war, wurde der Zug mit acht Minuten Verspätung angekündigt. Nun ja, nochmal eine „Warmlaufrunde“ bis zur Bahnsteigmitte und zurück Richtung Gleisspitze…
Da kam er, langsam den Bahnsteig entlangschleichend – klar, es war rutschig. Der Kollege stellte den Triebkopf mit der seitlichen Einstiegstür exakt neben mich, schaltete die Lüfter aus, öffnete die Tür und grüßte typisch hamburgisch: „Moin, moin! Komm rein, allens klor!“ Lachend antwortete ich: „Ihr mit eurem ‚moin, moin‘, ich amüsiere mich jedesmal darüber.“ „Tscha, nööch, das ist halt so Traditi-on!“ Er verließ den Führerraum, ich stellte und hängte meine Sachen auf, prüfte die Buchfahrpläne – alles da, alles korrekt. Den Bremshey-Sitz anpassen, ging diesmal fix, weil mein Vorgänger ähnliche „Maße und Gewichte“ aufwies wie ich; draußen wechselte das Signal von Hp00 auf Hp2. Kurze Zeit darauf leuchtete Zp9. Ich führte das Türschließ-Procedere durch, stellte die AFB auf 60 km/h (Ausfahrgeschwindigkeit Münster, signalisiert) und gab knapp zwei Tonnen Zugkraft je Fahrmotor. Surrend setzte der schwere ICE1 sich in Bewegung. Langsam, behäbig, fast möchte ich das Wort „majestätisch“ verwenden… Bei etwas über 20 km/h die berühmt-berüchtigte Umtaktung und ich gab 3 t Zugkraft – und handelte mir heftiges Schleudern ein. Also eingedenk der Fuldaer Lehre Zugkraft nach Null, die Triebräder faßten wieder, „Sanden alle Achsen“ und erneut auf 3 t. Klappte, etwas mehr, schließlich hielt er sogar fast 4 t unter Dauersand. Die 110 km/h bis zur Kurve Richtung Mecklenbeck waren rasch erreicht, Leistung runter, hinter der Kurve begannen die 160 km/h. Schweren Herzens wieder Sand (das widerstrebte mir beim Beschleunigen nach wie vor, trotz aller Erklärungen und Lehrsätze) und mit ein, zwei kurzen „Tanzeinlagen“ erreichte mein ICE1 die planmäßige Geschwindigkeit. Die 130 km/h in Dülmen bremste ich logischerweise handgesteuert ein – kleine Drucksenkung, langer Bremsweg … ach ja, meine geliebten, verflossenen Schnellzüge… Rauf auf 150 (mit Sand, anders ging’s nicht), die damalige Durchfahrgeschwindigkeit von Haltern. Blick in die LA – da war doch noch was…? Au verflixt, ja: Rund ein Kilometer hinter Haltern begann eine Langsamfahrstelle mit 90 km/h, dreihundert Meter lang, irgendwas mit der dortigen Kanalbrücke. Also: Zugkraftsteller auf Null, AFB auf Null, rollen lassen. In der nieseligen, düsteren Ferne das LF-Signal. Drucksenkung auf 4,7 bar, kurz wirken lassen, Sanden alle Achsen und runter auf 4,0 bar. Das Tempo fiel rasch, Druck erhöhen auf 4,5 bar, Sanden beenden, mit etwa 110 km/h am LF-Signal vorbei, Indusi-Wachsam bedient, eine Bremsstufe dazu und binnen kurzem zeigte der Tacho knapp 95 km/h an. Lösen, den Rest besorgten die Kurve und die leichte Steigung zur Kanalbrücke. Vsoll-Steller auf 90, Zugkraftsteller auf kleine Beharrungszugkraft – und mit exakt 90 km/h passierte mein ICE die Langsamfahrstelle. Die Geschwindigkeit fiel: Klar, die Steigung bis Marl-Sinsen! Zugkraftsteller weiter nach vorne geschoben – und nun jaulten die Stromrichter auf, dazu das typische Geräusch der schleudernden Achsen! Leistung wegnehmen … elender Mist, die besagte Steigung lag unter riesigen alten Bäumen, deren Laub im Verbund mit dem immer noch niedergehenden Nieselregen eine unglaubliche Schmiere erzeugte. Handgesteuert weiter: Sanden alle Achsen und den Zugkraftsteller millimeterweise vorgeschoben – mehr als 1,8 t waren nicht drin, trotz Sand und coggingfreiem Drehstromantrieb. Die Bewaldung trat kurzzeitig zurück, rauf auf 2,5 t, dann wieder Bäume direkt am Gleis – und jaulend setzte dieses Schleudern erneut ein. Sandtaster loslassen, Zugkraft auf Null, erneut Sanden alle Achsen und den Zugkraftsteller gaaaanz sanft und langsam vorgeschoben: wie gehabt 1,8 t – mehr ging nicht. Blick auf den Tachometer: Der zeigte um die 60 km/h an, auf einer Strecke, die normalerweise mit 140 km/h zu befahren war. Und daß diese Steigung so lang war, wurde mir an diesem Abend zum ersten Male richtig bewußt. „Piiiiiiiiiip“ – der Zugbahnfunk. Ich meldete mich mit Zugnummer und Name und am anderen Ende sagte ein Vollexperte: „Lokführer – Sie setzen Fahrzeit zu.“ Verärgert – wie erwähnt, war ich im Umgang mit Nullen rabiater geworden – gab ich in ätzendem Ton zurück: „Ach, tatsächlich? Na, das liegt bestimmt an mir, ich habe keine Ahnung, wie man einen ICE fährt.“ „Werden Sie jetzt nicht ironisch! Was ist los?“ „Wo befindet sich denn eure Zentrale?“, fragte ich zurück. „Auf Formentera oder Ibiza?“ „Was soll das denn heißen?“ „Soll heißen: Guck‘ mal aus dem Fenster, draußen ist Nieselregen und Laubfall hat’s auch noch, die Gleise sind glatt wie Schmierseife, es ist nicht möglich, mehr als 1,8 t Zugkraft aufzusteuern. Bißchen wenig für den schweren Zug…“ „Dann geben Sie doch Sand!“ Mit wütendem Unterton antwortete ich: „Kluges Kind! Was glaubst du Zauberkünstler denn, was ich hier mache, hä?“ „Gibt es denn keine Möglichkeit, das Tempo zu erhöhen?“ „Doch, gibt es, rein theoretisch: Verlegt eine Zahnstange und schickt mir ‘ne Zahnradlok, die ist unabhängig von der Schienenkopfadhäsion … hmm, allerdings darf auf einer Riggenbach-Zahnstange meines Wissens nach höchstens 25 km/h gefahren werden. Auch nicht der Bringer. Vergiß es also. So gesehen, sind wir mit unseren etwa 60 doch echt gut dran, oder?“ Der Typ von der ZBF-Zentrale gab auf, wie das kurze „Pip“ der Verbindungstrennung dokumentierte. Dann meldete sich der Zugchef. Mit ihm konnte ich die Verhältnisse logisch besprechen und er meinte am Ende mit hörbarem Grinsen: „Paß auf, daß du keinen Krampf in den Finger bekommst, dann ist auch Schluß mit Sanden…“
Kurz vor Marl-Sinsen endete die bewaldete Steigungsstrecke. Und im Gefälle auf Recklinghausen zu erreichte ich – ohne Sand – wieder die fahrplanmäßige Geschwindigkeit. In der Gegend von Oberhausen ließ das Geniesel nach und ich konnte auf trockenen Schienen die Leistung des ICE voll ausfahren. Endergebnis: Ankunft Bonn HBf plus drei Minuten. Mal wieder Grund zur Freude…
Zitat von m-a-l-3000 im Beitrag #1217 Magst du uns nicht auch ein paar Lokführergeschichten erzählen? Du hast doch sicher auch so manches Erzählenswerte erlebt?
Hallo zusammen,
ich habe leider nicht so ein genaues Zahlengedächtnis wie Kurt. Und so ne Schreibe habe ich auch nicht. Aber paar kuriose Geschichten gibt es natürlich bei jedem Eisenbahner.
Kurz nach meiner Ausbildung vor einigen Jahrzehnten war ich nachts im Raum Stuttgart mit einer V90 unterwegs. Stuttgart hatte dafür gesorgt, dass bei jeder Schicht wenigstens eine kleine Zugfahrt enthalten war und man nicht die komplette Schicht im Rangierdienst schmoren musste. Ja, damals gab es noch viiiiele Wagen übern Berg zu drücken und zu rangieren!!! Aber durch die (kurze) Zugfahrt gab es die 13 Mark Fahrprämie für fast jede Schicht. Gegen drei Uhr in der Früh war ich also auf "Strecke" als es einen großen Knall tat. Dann rauchte und stank es gewaltig. Die Motordrehzahl stieg kurz auf jenseits der 1580 Umdrehungen pro Minute. Ich dachte eine Rakete startet im Motorraum. Vorsichtig öffnete ich die Schiebetür zum Motorraum und inspizierte im Schein der Taschenlampe das, was zwischen dem Rauch überhaupt zu erkennen war. Und dann erkannte ich, dass die Schwingmetallkupplung sich aufgelöst hatte. Sie war einfach nicht mehr da. Ein vulkanisiertes Gummi-Metallteil welches die Zugkraft vom Fahrdiesel auf das Getriebe überträgt. Also verständigte ich zum ersten Mal (und zum Glück zum letzten Mal in meinem Leben) die Betriebsleitung darüber, dass eine Hilfslok für mich und meine paar Wägelchen von Nöten war. Bei der BL war man "not amused". Meiner Stimme war wohl anzuhören, dass ich fast noch Jugendlicher war. Also meinte die andere Stimme am Zugfunk ein "guter, erfahrener" Lokführer würde eine Notschaltung hinbekommen, ich solle doch noch mal in der Störliste schauen. Ich hätte ihm das Blockdiagramm des Kraftflusses runterbeten können und ihm sagen können, dass man hier keine Notschaltung bspw. mit einer Perlonstrumpfhose realisieren kann, so wie man einen VW-Käfer immer noch flott bekommen hatte. Aber damals hatte man als Reservelokführer zur Anstellung noch nicht den Schneid wie später als Hauptlokführer. Also legte ich auf, setzte mich in die offene Führerstandstür, überlegte ernsthaft wie bei der Modellbahn, Lok und Wagen vom Gleis zu schubsen und nach Hause zu laufen. Nachdem sich dann der Adrenalinpegel wieder normalisiert hatte, rief ich erneut über Zugfunk und teilte mit, dass in der Störliste auf Seite sowieso ganz klar gesagt wird, bei "defekter Schwingmetallkupplung ist eine Hilfslok" anzufordern. Das war natürlich gelogen aber nun war der BLer zufrieden. Lange habe ich gegrübelt, durch welche Fehlbedienung ich wohl die Lok auf dem Gewissen hatte. Jahre später traf ich einen Kollegen in Aalen, der erzählte zufällig, dass ihn in jungen Jahren auch eine Schwingmetallkupplung um die Ohren geflogen ist und das dieses wohl nicht selten gewesen sei. Da hatte ich meinen Frieden wieder gefunden, auch wenn unser BW zum Glück schon keine V90 mehr hatte.
Grüße Micha
P.S.: Es gibt noch eine Geschichte, von und mit einem Kollegen, den es nach dem Mauerfall wegen Personalüberhang aus den neuen Ländern nach Süddeutschland gespült hatte, der bei der SOB ausgeliehen war, umhergeschickt in Deutschland wie Falschgeld und der daher vor nichts und niemanden mehr Furcht und Respekt hatte. Interessiert das jemanden?
Zitat von m-a-l-3000 im Beitrag #1217 Magst du uns nicht auch ein paar Lokführergeschichten erzählen? Du hast doch sicher auch so manches Erzählenswerte erlebt?
Hallo zusammen,
ich habe leider nicht so ein genaues Zahlengedächtnis wie Kurt. Und so ne Schreibe habe ich auch nicht. Aber paar kuriose Geschichten gibt es natürlich bei jedem Eisenbahner.
Kurz nach meiner Ausbildung ... ... auch wenn unser BW zum Glück schon keine V90 mehr hatte.
Grüße Micha
P.S.: Es gibt noch eine Geschichte, von und mit einem Kollegen, den es nach dem Mauerfall wegen Personalüberhang aus den neuen Ländern nach Süddeutschland gespült hatte, der bei der SOB ausgeliehen war, umhergeschickt in Deutschland wie Falschgeld und der daher vor nichts und niemanden mehr Furcht und Respekt hatte. Interessiert das jemanden?
Hallo Micha,
ich habe leider keine Dieselausbildung! Nur Hochspannung mit Zwischenkreis und Drehsaftgedöns im Fahrgestell und das gute alte Schaukelpferd namens 151! Ich bin dankbar für jede Geschichte aus der mir verwehrten bzw verlorenen Zeit, die ich zu lesen bekomme. Also, Micha, jemand interessiert!!! Übrigens, auch diese Geschichte hat was. Man kann sich selbst darin wieder erkennen, wenn was nicht so klappt, wie man es sich denkt und die Reaktion darauf. Ich hatte gestern auch wieder so einen schei.... Tag gehabt, der so ziehmlich eirig war.
Ja, so ist das! Der 401 und 402 sind bei schmierigem Wetter richtig üble Kisten, schleuderanfällig ohne Ende. Da habe ich auch oft geflucht in meiner FV-Zeit. Ich mochte die 401/402 eigentlich immer wesentlich lieber wie den ICE-T oder ICE 3, einfach weil er sich noch wie eine richtige Eisenbahn fährt, eben schön satt , schwer und indirekt. Der T und 3er fährt sich da vergleichsweise eher wie ne Straßenbahn oder ein lausiger "Mumienroller" 628, halt leicht, direkt und spielerisch, irgendwie langweilig, halt typische Frauenfahrzeuge! ;-) Aber eins muss man diesen Spielzeugzügen lassen, bei Schmierwetter waren der T, und erst recht der 3er, dann doch eindeutig im Vorteil. Klar, waren ja auch wesentlich mehr angetriebene Achsen!
ich habe leider nicht so ein genaues Zahlengedächtnis wie Kurt. Und so ne Schreibe habe ich auch nicht. Aber paar kuriose Geschichten gibt es natürlich bei jedem Eisenbahner.
Ich finde deinen Schreibstil absolut o.k., auch wenn er sich von Kurts Stil deutlich unterscheidet. Aber ihr seid ja auch 2 verschiedene Menschen, wieso solltest du da auch grad zufällig den gleichen Stil haben, wie Kurt? Das tut nichts zur Sache. Und ob da jetzt ne Jahreszahl dabeisteht, oder nicht, ist mir auch ziemlich egal. Die Rangierlokgeschichte mit der Schwingmetallkupplung fand ich jedenfalls sehr lesenswert. Ich würde mich über weitere Geschichten von dir jedenfalls sehr freuen!
alles geht einmal zu Ende, auch die Erinnerungen an Vorkommnisse und Erlebnisse auf und mit dem ICE. Mit „aller Gewalt“ könnte ich vielleicht noch die eine oder andere völlig platte Story eruieren – doch wozu? Ich denke, mit der folgenden letzten ICE-Geschichte erhält die Sache einen guten Abschluß; anschließend gefolgt von den Anmerkungen zu meiner letzten Fahrt...
Erlebnisse mit dem ICE, Teil 12
Mittelwagen aussetzen…?! Mit welcher Vorleistung wir anno 2000 nach Frankfurt HBf kamen, weiß ich beim besten Willen nicht mehr; es wird wohl ein IC gewesen sein. Bespannt mit E 101, versteht sich, und es gab hin und wieder immer noch das eine oder andere – nunmehr jedoch üblicherweise harmlose – Problemchen. In Frankfurt bestand in der recht lange geöffneten, vorzüglichen neuen Kantine die Möglichkeit zum Abendessen, bevor die „härteste ICE-Tour aller Zeiten“ anstand: Ablösen mit Wende am Bahnsteig (also an der neuen Zugspitze), das Wende-Procedere mit Bremsprobe und so weiter vornehmen – und dann hieß es warten, denn dieser ICE1 hatte in Frankfurt, aus welchen Gründen auch immer, runde 25 Minuten Standzeit. Wir Lokführer – boshaft wie öfters – vermuteten, mit diesem Zug wolle die Bahn zeigen, daß sie unter allen Umständen pünktlich verkehrt.
Der ICE kam irgendwo aus dem Süden, München, glaube ich, und wenn er dort eine Stunde zu spät abfuhr, war er im Endbahnhof Köln HBf garantiert wieder planmäßig, denn nicht nur diese 25 Minuten in Frankfurt bildeten ein Zeitpuffer, hinzu kam die unglaublich lange Fahrzeit von Frankfurt nach Köln. Er hielt, nachdem er gegen 22:00 Uhr Frankfurt verließ, auch in Bingerbrück; und wenn man – das kapierte ich nach der zweiten, dritten Fahrt – ab Bingerbrück mit maximal 90 km/h fuhr, kam man in Koblenz HBf fast zehn Minuten zu früh an, wo übrigens planmäßig acht Minuten Haltezeit im Fahrplan standen. Wer diese „Schnarchsackfahrzeiten“ ausbaldowert hatte, blieb unbekannt – und wir genossen den Spaß, mit einem ICE1 in Schleichfahrt unterwegs zu sein. Doch, ein hübscher Kontrast zu dem sonst üblichen Hetzen und Jagen.
Abfahrt Frankfurt HBf wie gesagt um etwa 22:00 Uhr, Ankunft Köln HBf 1:05 Uhr – das weiß ich noch wie gestern: Über drei Stunden Fahrzeit für etwa 220 Kilometer. Da konnte der ICE sich mal ein bißchen erholen … ja, ja, auch Maschinen haben eine Seele. Ich sagte es schon in einer der früheren Geschichten.
Es war im April 2000, einer meiner letzten Monate bei der Bahn, was ich aber nicht wußte. Gut gelaunt hatte ich den ICE1 mit der Zugnummer 852 in Frankfurt übernommen, machte über das Bordtelephon ein Schwätzchen mit dem Zugführer, der unseren Zug eine „Rentnerveranstaltung“ nannte, worauf ich erwiderte, er solle erst mal in mein Alter kommen, ich hätte übermorgen meinen 87. Geburtstag. So flachsten wir eine Weile rum, bis der Ernst des Lebens begann: Ausfahrt auf Hp2, die rasante Fahrt konnte losgehen – nach dem Abfahrauftrag versteht sich.
Bis Mainz war volle Buchfahrplangeschwindigkeit angesagt, dann an/ab binnen zwei Minuten – und von da an wurde es beschaulich. Ich stellte die AFB auf 130 km/h, merkte in Heidesheim, daß ich bereits weit vor Plan lag, steuerte den gesamten Antrieb auf Null und ließ den ICE einfach ausrollen, bis runter auf 90 km/h … nochmal „Gas geben“? Nicht nötig, Durchfahrt Bingen-Gaulsheim, Bingen – und in die Bremse zum Halt in Bingerbrück; Türfreigabeschalter auf „rechts“. Drei Minuten vor Plan. ICE 852 besaß in der Tat sagenhafte Fahrzeiten, so ganz anders als sonst üblich.
Schöne, mondhelle Nacht, die sich so langsam entwickelte, mit dem Vollmondlicht kontrastierende Wolken … trotz all der Jahre im Dienst umfing mich erneut der Zauber dieser Landschaft, der Blick auf den Mäuseturm, die Berghänge, in die sich der Rhein während Jahrmillionen eingegraben hatte, die Römer, die in der Antike hier bereits Weinbau betrieben … die ganze Rheinstrecke war für mich wie ein Geschichtsbuch mit geographischen Abbildungen… Und dann diese romantische Strecke langsam und streßfrei mit einem der modernsten Züge überhaupt entlangfahren, mit Automatik (AFB) versteht sich: wenn schon, denn schon … beruflicher Genußfaktor.
Ich vergaß bisher, zu erwähnen, daß wir Lokführer seitens der Verwaltung in jenen Jahren nach und nach mit Handys ausgerüstet wurden; ich kann diese Dinger bis heute nicht leiden und bezeichne sie gerne provokant als „Gehirnmikrowelle“. Und hätte nicht ein kommunikationstechnisch begabter Kollege mir dieses Ding in Gang gebracht, wäre ich von dem Spuk verschont geblieben („.. bin ich zu doof zu, keine Ahnung, wie das mit SIM-Karte und so geht…“). Seit ungefähr 1999 nämlich hatte das Handy griffbereit auf dem Führerpult zu liegen. Vor der Abfahrt mußte man die Zugnummer in das Ding eingeben und irgendeine Bestätigung durchführen – damit war man für die Betriebsleitung über die „Mikrowelle“ jederzeit erreichbar. Auf meine Frage nach dem Sinn und Zweck dieser Übung vor dem Hintergrund des etablierten und funktionierenden Zugbahnfunks (ZBF) erhielt ich die Antwort, die Funkzentralen seien jetzt Eigentum der Firma DB-Netz und die berechne für jede Funkverbindung 2,00 DM. Ob’s stimmt, weiß ich nicht. Angesichts des um sich greifenden Privatisierungsschwachsinns aber durchaus denkbar.
So war ich also an diesem ansonsten richtig schönen Spätabend auf der Rheinstrecke unterwegs; mit dem ICE1, in gemächlichem Tempo mit AFB, konnte die Gedanken schmurgeln lassen. Vor mir, oberhalb der diversen Schalter und Taster des Führerpults, lag das dämliche Handy und ich dachte daran, was es in den frühen 1970er Jahren für einen Aufstand gab, wenn ein Lokführer auf seinem nächtlichen Güterzug ein Kofferradio mitführte: „Ablenkung, Betriebsgefahr!“, lauteten die Argumente. Und jetzt lag da diese blöde Strahlenkanone, wo jederzeit ein Gespräch einlaufen konnte, gemeldet mit einem fürwahr erschreckenden Signalton. Der mußte laut sein, weil die Umgebung ja allerhand Betriebsgeräusche aufwies, die sicher zu durchdringen waren. Offen gesagt, störte mich das Handy dermaßen, daß ich oft „vergaß“, es zu aktivieren. Kam dann über ZBF ein entsprechender „Anschiß“, pflegte ich mit blödestmöglicher Stimme zu beteuern, ich hätte vergessen, wie man das Ding einschaltet und einloggt. Dann durfte ich mir jedesmal ebenso geduldige wie todlangweilige Erklärungen anhören.
Zeichnete sich so das Ende ab? Ich weiß es nicht, Fakt aber ist, daß die zunehmenden Verkomplizierungen und Schematisierungen mir die Freude am Beruf zu nehmen begannen und – wie in derlei Situationen psychologisch erklärbar –, begann wieder eine Phase, wo ich hinter jedem Brückenpfeiler oder Gebüsch einen potentiellen Selbstmörder erwartete. Diese Psychokiste hatte ich 1986 schon mal, jetzt bahnte sie sich wieder an … an was anderes denken, Junge, du fährst eine der besten Touren, schau‘ raus auf die mystische Landschaft, freu‘ dich an diesem tollen Zug…! Normalerweise verschwanden jene Negativgedanken dann rasch; auch an diesem Abend konnte ich sie verdrängen. Ein weiterer Plausch mit dem Zugchef über das Bordtelephon stellte meine gute Laune wieder her.
Koblenz HBf – trotz Schleichfahrt fünf Minuten zu früh. Ich öffnete das bahnsteigseitige Seitenfenster, schaute am Zug entlang nach hinten, war wieder voll da: Ich fahre den ICE! Toll! Meine Betrachtungen unterbrach ein kurzer Doppelpiepser des dämlichen Handys, der das Einlaufen einer SMS anzeigte. Ich war wieder „stinkig“, denn ich wußte nicht, wie man eine SMS sendet – war mir zwar grundsätzlich wurscht, aber weil ich’s nicht konnte, war ich sauer. Ebenfalls psychologisch interessant, oder? Ich nahm das Teil zur Hand, schaltete das Führerraumlicht ein, um besser sehen zu können, denn man mußte zum Lesen der SMS zuvor irgendeine Taste drücken – und ich wußte sogar, welche! Auf dem Minibildschirm stand folgender Text: „Lokdienst Köln, Auftrag an Lokf. 852: In Koblenz HBf Mittelwagen 5 aussetzen!“ Ich mußte gleich grinsen, denn es war klar: Da wollte mich jemand auf die Rolle legen. Erinnert Euch an meine Beschreibung der Bildung eines „Rumpfzuges“, welche enorme mechanische Arbeit das Abkuppeln eines Wagens bedeutete: Faltenbalgverschraubungen, Bodenklappe, Steckschlüssel zum Trennen der Schaku, dann die ganzen elektronischen Maßnahmen – und beging man nur einen Fehler, lief überhaupt nichts. Ich wählte die Nummer der Lokleitung Köln-Betriebsbahnhof (denn vom Lokdienst kam dieser „Auftrag“ garantiert nicht). Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob der dortige Lokdienstleiter bereits eine Display-Anzeige der Nummer des Anrufenden erhielt; wie auch immer, er meldete sich cool mit „Lokleitung Bbf, E. …“ Na klar, der Kollege E., mit dem ich schon so viel herrlichen Blödsinn durchgezogen und der nun mich erwischt hatte. Ich sagte mit ernster Stimme: „Herr Lokdienstleiter, der Auftrag des Lokdienstes Köln ist erledigt, ich melde hiermit Vollzug der Trennung. Weil das mit den Faltenbälgen und so zu lange gedauert hätte, haben wir Mittelwagen 5 einfach mit der Flex rausgesägt. Jetzt haben wir aber das Problem, wie wir die anderen Wagen wieder kuppeln – daher meine Bitte um technische Aufklärung.“ E. spielte mit: „Das ist keine Schwierigkeit, der Zug sollte ohnehin in zwei Einzeleinheiten zerlegt werden. Fahr‘ mit dem Rest bis Köln. Der andere Teil dient dem Betriebsversuch, statt der teuren ICE2-Steuerwagen künftig Lokrangierführer mit Funkfernsteuerung des TK einzusetzen…“ Hier unterbrach er sich, weil er das Lachen nicht mehr unterdrücken konnte. „Wird erledigt“, antwortete ich, konnte mich auch nicht mehr ernsthalten und drohte: „Oh warte, dich erwische ich auch nochmal!“ „Kommst du heute noch auf die Lokleitung?“ „Nee, Feierabend im Hauptbahnhof. Aber deine Dresche krieg’ste trotzdem irgendwann!“ Wir flachsten noch ein bißchen rum, erinnerten uns an die gemeinsamen Streckenkundefahrten, wie er dem Lehrführer H. die Schau mit dem angeblich schwergängigen Führerbremsventil geliefert, wir den Frankfurter Kollegen auf der Spessartstrecke mit dem Fluß „Würze“ genervt hatten. Nachdenklich, was gar nicht seine Art war, meinte E.: „Du, Kurt – ich bin sicher, die schönen Zeiten sind vorbei…“ Er hatte recht und mir fiel keine bessere Antwort ein, als ein kurzes „Ja, stimmt.“
Und ehe ich’s mich versah, absolvierte ich wenige Monate später meine letzte Fahrt…
wunderbare Geschichte, diese aufgelöste Schwingmetallkupplung! Als (in jungen Jahren) Auch-V90-Dompteur kann ich Dein Erlebnis gut nachvollziehen. Das gilt auch für die damals nicht selten überheblichen Betriebsleitungen.
Schreibtip eines alten (Nebenberufs-)Journalisten: Ab und zu einen Absatz einfügen, dann wird die Sache lesefreundlicher. Ansonsten: Du verstehst, zu erzählen! Mehr!
über meinen Spaß mit den Schmalspurzugbegleitern von DB ZugBus hatte ich ja schon mal berichtet. Man hätte damals den Geschäftsbereich fairer Weise BusZug nennen sollen, denn als die Busmanager das Bahnspielen anfingen, wedelte der Schwanz mit dem Hund und dann wird es bekanntlich lumpig. Zugbegleiter, die nicht mal mehr rangieren können – da gehörst du dann der Katz’.
Anfangen will ich heute mit einem Ausbildungslokführer, den ich jetzt nicht „Bruder Leichtfuß“ nennen möchte, denn das, was er tat, war wohl schon überlegt. Aber ein „Freak“ war er allemal, bei dem man sich fragte, wie konnte er so Karriere gemacht haben, ohne je angeeckt zu sein. Ich kann leider keine Namen und Orte nennen, weil ich nicht weiß, ob Beteiligte noch im Dienst sind.
Bei der ersten Ausbildungsfahrt zur Linienzugbeeinflussung bspw. fuhren wir mit besagtem Ausbilder und zwei weiteren Kollegen auf dem Führerstand einer E120. Der Ausbilder, um uns die Vorzüge der LZB zu demonstrieren, zog beide Sonnenblenden herunter und fragte scherzhaft, ob jemand Skatkarten dabei hätte. Bis Mannheim hätten wir nun alle Zeit der Welt. Mein Kollege linste durch den unteren Schlitz der linken Sonnenblende und fragte mit gespielter Erschrockenheit ob hier die Gleisbaufahrzeuge immer so weit ins Lichtraumprofil ragen würden. Der IC machte dann einen schnellen Tempowechsel und das Rollo flog auf. Endlich hatten wir ihn auch mal drangekriegt. Wir erklärten ihm dann, das mit den Skatkarten wäre ja machbar, aber so lange wir noch keine eigene Erfahrung mit der LZB gemacht haben, hätten wir die Sonnenblenden gerne weitestgehend oben…
Das ganze war natürlich ein Spaß, denn die Streckenbeobachtung ist natürlich auch bei LZB-geführten Zügen obligatorisch. Manche Kollegen werden die Story kennen, als ein Tf auf freier Strecke einen von Idioten ausgelegten Hemmschuh anfuhr, den es hoch schleuderte und die Lok, die mit 140 km/h unterwegs war, ihn einholte und es den Hemmschuh durch das linke Frontfenster schlug, so dass er letztlich wie ein Geschoss in der Führerraumrückwand stecken blieb. Die Bilder gingen ja eine Weile unter den Kollegen durchs Land.
Mir lagen mal auf 10 Meter Länge aneinandergereiht Schottersteine auf einer Schiene. Drei Lausbuben rechts hinter den Büschen versteckt. Mit dem Steuerwagen voraus bei 140 km/h war das auch nicht lustig. Man möchte dann schon wissen, warum man eventuell entgleist. Aber zurück zum Ausbilder.
Auf der Rückfahrt mit einem IR drückte ihn die Blase. Er ging also beim nächsten Halt des IR von Bord in den Reisezugwagen. Wir seien ja drei ausgebildete Tf und würden das schon bis Vaihingen hinbekommen. Prompt wurde nach Weiterfahrt ohne Ausbilder auf dem Führerstand meinem Kollegen eine Langsamfahrstelle zum Verhängnis und es gab wegen zu knapper Unterschreitung der angehängten Geschwindigkeitsprüfung eine Zwangsbremsung. Peinlich, peinlich. Meine Kollegen hingegen frotzelten, wie es wohl dem Ausbilder auf dem WC nun ginge. Kommentar des Ausbilders als er wieder an Bord war, „In die Hosen brauchte ich mir ja nicht zu machen, ich saß ja auf´m Klo. Was habt ihr wieder für nen Sch… angestellt???“. Er hatte sich aber dank guter Streckenkenntnis schon versichert, dass wir nicht am Standort eines Hauptsignales eine gefangen bekommen hatten und die La kannte er auch. Vermutlich war das Ganze sogar beabsichtigt. Aus Fehlern lernt man bekannter Maßen am besten.
Bei einer Fortbildung zu einer weiteren Baureihe waren wir wieder gemeinsam unterwegs mit ihm und einem Güterzug. Nachdem man uns zur Seite genommen hatte für eine Überholung, fragte er beim Fahrdienst nach, wie viel Zeit er denn nun habe, wenn es weitergeht. Er möchte auf freier Strecke mal eine besondere Störung simulieren. Dreißig Minuten, war die Auskunft. Doch dann würden wir nicht bis zum nächsten Knoten ohne weiteren Halt durchkommen und müssten nochmals raus zur Überholung. Ich war leicht angefressen, wollte ich doch lieber durchfahren und Schichtende haben und der Fahrdienst hatte auch Bammel, dass die Strecke am Ende dicht ist. Aber der Ausbilder verwies auf die Möglichkeit ja auf der zweigleisigen Strecke signalisiert falsch fahren zu können, wie es damals noch hieß. In Kilometer sowieso sollten wir in Höhe eines ehemaligen Bahnübergangs vor dem Bahnwärterhaus einen Halt hinlegen. Nichts was für mich nach einer großen Herausforderung auf der Strecke aussah. Ich näherte mich der angegebenen Stelle, als der Ausbilder mir über die Schulter griff und pfiff was das Zeug hielt. Prompt tauchte jemand auf dem Gartengrundstück des Bahnwärterhäuschens auf, mit einem Weizenglas in der Hand und einladenden Handbewegungen. „Lok sichern und absteigen“. Kurz darauf kletterten wir über den Zaun und besuchten einen pensionierten Lokführer, der uns mit kalter Limo an einem heißen Sommertag eine große Freude machte und uns seine Kunst als Kleingärtner erläuterte. Ruhestand kann so schön sein. Zwanzig Minuten später und nach unglaublichen Räuberpistolenerzählungen machten wir uns dann an die Weiterfahrt. Im nächsten Bf mussten wir dann halt zwei Überholungen über uns ergehen lassen, bis es dann weiterging und wir eine Stunde später als ursprünglich geplant, Feierabend hatten. Aber das hatte sich gelohnt.
So weit so gut, als im vorigen Beitrag erwähnter Kollege aus den neuen Bundesländern auch mit an Bord zu einer Baureihenfortbildung war. Da hatten sich nun zwei „Freaks“ gefunden. Wir kehrten nach getaner Arbeit in einer größeren süddeutschen Stadt ein, bevor wir Fahrgast ohne Ausbilder zurück wollten. Der Ausbilder war in jener Stadt zu Hause. Bei all den spannenden Geschichten verging die Zeit, der Durst war groß und als wir spät nachts auf dem Bahnsteig standen, hatten wir uns doch glatt im Fahrplan verpeilt. Der vom Kollegen geplante Heimatzug fuhr nur an „Sa“. Für die nächsten vier Stunden sollte es für uns nicht Richtung Heimat gehen. Aber im zwanzig Minuten entfernten Bahnhof sollte es noch eine letzte Möglichkeit geben. Taxi war uns jedoch zu teuer. Also schlug unser abgebrühter Kollege vor, der schon in ganz Deutschland und in Teilen der Schweiz am Kutschen war, eine in Sichtweite von uns erspähte abgestellte 40er aufzurüsten, falls das „Besteck“ vorhanden wäre und sie fahrfähig ist. Über Fernsprecher meldete er sich dann beim Fahrdienst, ob denn jetzt endlich die Fahrplananordnung da wäre, er müsse zum Schichtende nun auch noch außer Plan die 40er Lz nach „X Y“ überführen und sei ziemlich angefressen, dass hier nichts vorwärts ginge. „Von dir weiß ich ja gar nichts“, entschuldigte sich der arme Fahrdienst. „Gib mir halt ne Zugnummer und lass mich ab. Ich bin abfahrbereit und hab für heute eigentlich schon genug Stunden. Sonst müsst ihr nen neuen Tf für den Mist holen“. Keine fünf Minuten später waren wir etwas mehr Richtung Heimat unterwegs, baten im Anschlussbahnhof um Einfahrt in ein bahnsteignahes Gütergleis, weil angeblich ein Kollege an Bord war, der noch Fahrgast mit dem letzten Personenzug weiter sollte, rüsteten im Akkord die Lok ab und verließen unerkannt in der Dunkelheit die Lok und erreichten unseren Zug nach Hause noch gerade so. In besagtem Bf war man wohl bei Anbrechen der Morgendämmerung sehr erstaunt, dass eine 40er einfach so ein Gütergleis belegte und im rückliegenden Bahnhof wurde eine 40er vermutlich schon für die anstehende Arbeit vermisst. Disponenten hatten es damals auch nicht immer leicht, wo alles noch ein Geschäftsbereich war…
super, ich brech' zusammen! Eine Lok "klauen", der Traum eines jeden, der schonmal Zoff mit Leitstellen hatte...! Lok von A nach B fahren, scheinheilig pfeifend abrüsten und verschwinden ... "Viole schieben" wie die ollen Berlina früja sachten...
tja mir ging aber die Muffe, das kann ich Euch sagen. Ihm war ja nichts heilig, aber ich hatte schon Angst, dass so ein Manöver den Job kosten konnte. Ich glaubte in dem Personenzug, dass wir vor dem Aussteigen noch bestimmt verhaftet werden. Meine B-Fahrkarte habe ich ganz schüchtern vorgezeigt bei der Fahrkartenkontrolle.
Alter Vater Ihr macht Sachen bo ej!!! Und ich fahre zwei mal am Tag runter auf den Maxi und hab Angst das da wer meckert wegen km und so, das ist ja pillepalle gegen Euch!
''Die Summe aller Probleme geteilt durch die beteiligten Personen ist immer das Gleiche''
Eine Lok klauen und sich einen Fahrauftrag "erschleichen"!
Toll!
Und dazu ist die Geschichte wirklich sehr anschaulich und lebhaft geschildert. Ich kann mich aber auch sehr gut in die Lage des armen Fahrdienstleiters versetzen, der wohl Blut und Wasser geschwitzt hat, weil er meinte irgendein Fahrauftrag sei ihm durchgerutscht.
Also, Lokführers im Netz, wie steht es mit weiteren schönen Geschichten?
Wäre doch schade, wenn der Thread irgendwann in der Versenkung verschwindet, nur weil Kurt keine Geschichten mehr hat. Übrigens, Danke an Kurt für die vielen schönen Geschichten hier. Ich könnte noch mehr vertragen und vermute mal, dass ich nicht alleine bin!
Und ehe ich’s mich versah, absolvierte ich wenige Monate später meine letzte Fahrt…
Beste Grüße: Kurt
Kurt, erzähl mal. Hattest du wenigsten ein bisschen Spaß bei der letzten Fuhre? Mit Torte am Bahnsteig oder so?
Bei mir ist es schnell erzählt. Kurz aber noch zuvor was anderes:
Einmal wollte ich Freitag Nachmittag Fahrgast mit dem "Kollegen" und zwei anderen Tf von "Regensch-burg" nach Stuttgart. Wir waren dort zur Ausbildung. Der Bahnsteig wurde voller und voller, der Zug hatte Verspätung. Ne Menge Bundis saufend und gröhlend auf dem Bahnsteig. "Na toll", dachte ich angesäuert. "Mit denen ein Abteil zu teilen macht bestimmt ne Menge Spaß". Mein besagter Kollege sagte: "Soll ick Euch mal zeigen wie man die handzahm kricht?". Na gerne. Also kam folgende Ansage: "Kameradeeeen!!!! - - - Wenn's hier nicht gleich ruhiger wird, holen wir Eure Freunde von den Feldjägern. Dann könnt Ihr das Wochenende im Bau weiterfeiern." Plötzliche Ernüchterung machte sich breit. Den Spruch musste ich mir merken. Als ich später Triebwagen fahren durfte, kam mir der mehrmals zu Gute.
Aber wie sollten wir vier ein gemeinsames Abteil ergattern? Mit B-Fahrkarte war man eh gehalten Sitzplätze freizumachen, aber vielleicht hatte man Glück und stieß auf einen nachsichtigen Zugbegleiter und für Bundis brauchte man nun wirklich keinen Platz machen. Ich schlug vor, uns auf dem ganzen Bahnsteig zu verteilen, dass wenigstens einer von uns vor einer Tür bei Einfahrt des Zuges stand. "Quatsch", sagte unser Kollege, "Ich zeich Euch ma. Weit wech von de Türen müssda stehn." Taten wir. Als der Zug einfuhr, standen wir genau zwischen den beiden Türen, gaaanz allein. Die Menschenmassen standen links und rechts von uns vor den Türen. Vor uns durch das Fenster war ein freies Abteil zu sehen. "Ziehen helfen!" Wir zogen das Übersetzfenster auf und feuerten unsere Taschen hinein. Ich hatte ein bisschen Pech - meine purzelte vom Sitz runter auf den Boden. "So und nun gemütlich einsteigen und so tun, als ob wir aus dem Speisewagen kommen." So geht das also. Waren wir nicht dumm bevor die Klimawagen kamen und auch dieser Trick der Vergangenheit angehörte?
In meinen späteren Jahren wurde es mit den Baureihen immer anspruchsloser. Zu Beginn ging es aufwärts mit anspruchsvollen Baureihen - zum Ende war es dann fast nur der Regio-Schüttel. Brachte aber auch seinen Spaß. Es gab Kontakt zu den Fahrgästen, die man bei lokbespannten Zügen natürlich nie hatte. Zugführer war man selbst, Fahrkartenkontrolle war ja gar nicht mehr und bei Zügen in Tagesrandlage sah man oft die Pappenheimer ohne Fahrkarte, wie sie an den Türen standen bei Einfahrt in den Bahnhof und nach Personal auf dem Bahnhof achteten. Als ich den Verdacht hatte, dass im vorderen Wagen Schwarzfahrer unterwegs waren, verstieg ich mich bei einem Unterwegshalt kurz vor Weiterfahrt zu der Durchsage: "Der Fahrkartenkontrolleur möchte bitte in den ersten Wagen kommen". Drei Schwarzfahrer purzelten aus dem ersten Wagen und bevor sie merkten, dass aus dem hinteren Wagen gar keiner vor kam, hatte ich die Türen wieder verschlossen. Aus dem Führerstandsfenster rief ich noch: "Für lau könnt ihr es ja nochmal eine Stunde später probieren." Sie traten wie wild nach dem Zug und wollten wieder einsteigen. Ich entdeckte später leichte Beulen in der Tür. Aber der Spaß war es wert.
So überlegte ich mir immer mehr, um die Schwarzfahrer zu ärgern. Am Wochenende bei schwach besetzten Zügen hielt ich die Außentüren am Anfangsbahnhof geschlossen. Per Einzelfreigabe hatte ich nur die Türen des vorderen Fahrzeugs auf. So musste das ganze Publikum vorne einsteigen, auch die zwielichtigen Gestalten, die dir im zweiten Wagen nur Sauerei machten. Kurz nach planmäßiger Abfahrtzeit trat ich aus dem verdunkelten Führerstand in den Fahrgastraum und rief: "Guten Taaag, die Fahrausweise bitteeee!!!" Einige stürzten hinaus und ich stürzte in den Führerraum zurück. Türen zu und Fahrschalter nach vorne. Dann winkte ich ihnen aus dem Seitenfenster. Aber den Niedergang meiner Bahn konnte ich so auch nicht aufhalten.
Meine letzte Fahrt war dann auch auf nem Schüttel. Zum Glück am Wochenende. Freunde unserer Familie und gute Nachbarn waren mit an Bord. Per Wochenendticket hatte ich die Meute eingeladen und die Wochenendtickets zum Schluss wieder eingesammelt und der abrechnenden Stelle als Fehlaustellung zurückgegeben. Ich musste zum Schluss zur Abwechslung auch mal für Schwarzfahrer gesorgt haben. Eine Zwischenfahrt machte ich allein auf der Tour und ließ sie Stadtbummeln, ehe ich sie auf meiner wirklich letzten Fahrt wieder mitnahm. Am Bahnsteig gab es nach Ankunft noch Sekt von der Meute, dann musste ich die Kisten noch wegstellen und abrüsten. Das war's.
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, in den 80ern war es glaube ich am Besten...
eigentlich wollte ich die Geschichte meiner letzten Fahrt noch ein Weilchen zurückhalten; sie enthält viele persönliche Dinge, doch ich habe nichts zu verbergen kann zu allem stehen, was ich getan und gesagt habe. Also folgt als nächstes Posting das Ende meiner Geschichtensammlung, die - sobald mein Layouter Zeit hat - als E-Book, Book on Demand usw. erscheinen wird. Wir überlegen, ob wir die Kapitel mit Photos von Loks etc. garnieren sollen. Die aber müßten erstmal gemacht werden. Ergo: Schau'n wir mal.
Wohl alle Lokführer haben mal schlechte Tage, sind mit dem „falschen Bein zuerst aufgestanden“, ärgern sich über irgendwas, kurz: Nicht jeder Tag ist einer, von dem man in späteren Zeiten ruhmreiche Geschichten erzählen kann. Dann gibt es – individuell unterschiedlich – auch Phasen, soll heißen: Tage und Wochen, in denen man alles in die Ecke schmeißen möchte, wo zur Pensionierung anstehende Kollegen glühend beneidet werden. Doch auch diese Phasen gingen vorbei, die starke mentale Bindung an einen Beruf, den nicht jeder „einfach so“ erlernen konnte, weil einige Anforderungen bestanden, gewann wieder die Oberhand; nicht zuletzt, weil ich ab 1989 bis 1999 nebenamtlich als Ausbilder tätig war, jungen Nachwuchskollegen helfen durfte, ihre Fahr- und Bremstechnik zu perfektionieren, ihnen technische Zusammenhänge sowie Erfahrungswerte vermittelte. Das hat meistens viel Freude gemacht, außer bei den zwei Vollversagern, die einfach nichts „rafften“ und bei der Prüfung denn auch durchfielen – was ich dem B-Leiter vorhergesagt hatte. Doch die anderen entschädigten mich, indem sie eifrig bei der Sache waren und am Ende gute bis sehr gute Prüfungsergebnisse erzielten. Das sah ich als wichtige Aufgabe an. Im Laufe des Jahres 1999 spürte ich, daß meine Nerven nicht mehr so mitspielten wie in früheren Jahren. Die Tätigkeit als nebenamtlicher Ausbilder hatte ich wegen des ICE-Fahrens aufgegeben – außerdem schien mir, daß zehn Jahre Nervenstreß mit zum Teil weniger begabten Leuten genug sei. Meine fünf im Gleis überfahrenen Personen taten ihr übriges, wenn das erinnerungsweise zuweilen die Psyche blankschliff: ‚Mensch, hier, an dieser Stelle, vor vier Jahren…‘
Wenn sich die Zeiten ändern… Nach wie vor war die Personaldecke knapp und Peter M., der Disponent, freute sich, daß ich nun ausschließlich für den Betrieb zur Verfügung stand … was mir unterm Strich auch lieber war. Also fuhr ich nach wie vor disponibel (Berghoven für Schmitz), doch zuweilen gab es auch den einen oder anderen Sonderdienst; derlei grundsätzlich für die Firma „DB-Autozug“, die seinerzeit mit allerhand Problemen auch organisatorischer Provenienz startete und gerüchteweise binnen kurzem beträchtlichen wirtschaftlichen Erfolg erzielte, dabei mit geliehenem Fuhrpark unterwegs war: Da durfte ich ab und zu nochmal die brave alte E 110 fahren, mit Schlaf-, Liege- und Autotransportwagen am Haken … wie in alten Zeiten. Das heißt: Fast wie in alten Zeiten, denn Touren wie solche nach Neu-Isenburg gab es nicht mehr; mein „Revier“ war Dortmund-Betriebsbahnhof nach Köln-Deutz-Tief. Aber wenigstens das, als Abwechslung. Doch dann war auch damit wieder Schluß, anscheinend formierte sich diese Firma mit eigenem Personal? Jedenfalls hatte ich nach Herbst 1999 keinen Autoreisezug mehr in die Finger bekommen.
…und das berufliche Ende naht Es blieben die Wendezüge mit E 101 oder E 120 nach Frankfurt, Stuttgart und Hannover sowie natürlich die zahlreichen ICE-Leistungen; allesamt Kilometerfressereien, die auf Dauer schlauchten; auch ich wurde nicht jünger und einmal Köln – Stuttgart und zurück waren ungefähr 770 Kilometer, mit einer Pause von etwa 40 Minuten. Und die mitunter im Vorfeld. Die Kantine zeitlich nicht erreichbar, durfte man zwischen den Jagereien ein mitgebrachtes Butterbrot verzehren. Und dann ging’s wieder los: An den Zug, Bremsprobe mit NBÜ (Notbremsüberbrückung) wegen der zahlreichen Tunnel auf der von mir so gehaßten Neubaustrecke Stuttgart – Rollenbergtunnel … es wurde zunehmend „industriell“. Wenn man dann noch hinzuaddiert, daß ein Lokführer rein statistisch gesehen etwa alle 25 Meter (Meter!) eine Information aufzunehmen und zu berücksichtigen hat, dürfte klar werden, mit welcher Belastung solch eine „wilde Jagd“ von Köln nach Stuttgart und zurück vonstatten ging. Ohne Umschweife: Ich spürte meine mittlerweile 51 Jahre. Theoretisch durfte ich noch 14 Jahre fahren – und wie jeder Lokführer hatte ich die graue Angst vor dem letzten Tag, vor dem Bewußtsein, die endgültig letzte Fahrt anzutreten. Ich erinnere mich an zwei wirklich dramatische Fälle:
Da war Kollege F., ein sehr guter Lokführer, der nach Art meines alten Lehrmeisters Theo Welter die Druckluftbremsen beherrschte und stets für einen Spaß zu haben war. Als er einen Tag vor seinem 65. Geburtstag seine letzte Fahrt absolviert und Blumen und Glückwünsche vom Personalratsvorsitzenden sowie mehreren Kollegen entgegengenommen hatte, wirkte er sehr still, betonte dann mit sichtlich aufgesetzter Freude, er habe keine Probleme mit der Pensionierung, weil sein angemeldeter Nebenerwerbsbetrieb ihm keine Zeit für nostalgische Betrachtungen lasse. Zwei Wochen später klebte am Aushangbrett solch ein schrecklicher, schwarz gerahmter DIN-A4-Zettel: „…trauern wir um unseren Kollegen F., der im Alter von 65 Jahren am soundsovielten verschied…“ Das versetzte mir einen ziemlichen Schock: F., immer gut gelaunt, mit dem ich in den Zeiten, als wir noch zu zweit auf dem IC waren, öfters gemeinsam Dienst gemacht hatte … und nun war er tot…
Als Zwischenbemerkung sei noch erwähnt, daß ich gestandene Kerle weinen sah, als sie nach ihrer allerletzten Fahrt die Lok verließen, nicht wußten, was sie auf die gutgemeinten Wünsche der Kollegen antworten sollten.
Der zweite Fall enthielt eine Dramatik ganz spezieller Art. Wie es im unregelmäßigen Wechseldienst halt ist, sieht man bestimmte Kollegen monatelang nicht oder beinahe täglich. So geschah es beim Kollegen R.: Nach ungefähr einem halben Jahr sah ich ihn zufällig im Kölner Hauptbahnhof, die typische Lokführer-Umhängetasche auf der rechten Schulter. Wir begrüßten uns und ich fragte, welche Schicht er denn fahren würde. Kurzes Schweigen, verlegenes Lächeln, dann: „Ach weißt du, ich bin seit vier Monaten in Pension. Zu Hause halte ich es nicht aus, da fällt mir die Decke auf den Kopf. Also nehme ich die billigen Personalfahrscheine, setze mich in den Zug, also vielmehr jeweils in die Züge, die ich früher im Plan hatte. Heute fahre ich die Schicht 59 – Dortmund, Frankfurt, Köln…“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen, wußte nicht, was ich sagen sollte, murmelte was von „bin zeitlich knapp dran“ und machte, daß ich wegkam. Himmel – wie würde es mir später ergehen? Wie Kollege F. hatte ich eine Nebentätigkeit, doch offenbar reichte das nicht? Es bedurfte etlicher Mühen, Gedanken an die Zeit nach der Pensionierung zu verdrängen. Mensch, Kerl: ich war gerade 51 geworden und brauchte noch nicht mal eine Brille … Fazit: Solche wie ich machen’s ewig…
Ein humorvoller Aushang im Aufenthaltsraum stellte für einige Zeit alle schwarzen Gedanken hintan: In großem Format, die Ränder kunstvoll ziseliert, zierte ein wahrhaftiges Plakat am Schwarzen Brett den Raum; ein Kollege gab den Termin seiner Hochzeit mit einer weißen Afrikanerin bekannt, deren exotische Schönheit einigen von uns (auch mir) bekannt war; dazu der Text: „ICE-Lokführer heiratet Bürgerliche!“
Meine letzte Fahrt Anfang Juli 2000. Ich hatte mir einige Tage Urlaub genommen, um Bekannte und Freunde zu besuchen, die – wie ich – sich mit dem Hobby Musikaufnahme und -wiedergabe befaßten. Eine schöne Rundreise (per Auto), die mich in die neuen Bundesländer und in den Taunus führte, Übernachtungen und Essen in guten Hotels enthielt. Vierzehn Tage ohne Bahn – das war angesichts der damaligen Anforderungen mal richtig erholsam. Und danach würde ich wieder mit voller Energie einsteigen, dachte ich, derweil es irgendwo in meinem Unterbewußtsein sagte, meine volle Energie sei lange nicht mehr die der früheren Jahre. Ich wischte sowas beiseite: Quatsch!
Urlaubsende, erster Diensttag, 26. Juli 2000. Der aufmerksame Disponent hatte mir als „Wiedereinstieg“ nach den freien Tagen einen schönen, relaxten Frühdienst gegeben: Dienstbeginn gegen 7:00 Uhr in Köln HBf, V3, IC nach Dortmund, A3, Frühstückspause, V3, IC nach Köln HBf, A3, eine Stunde Pause, dann ablösen (V3) an einem aus dem Osten kommenden Zug, bespannt mit E 112, dem „rasenden Wellblech“, den Zug zum Betriebsbahnhof fahren (1 km), Lok mit A1 abstellen, Fahrgast zurück zum Hauptbahnhof, Feierabend gegen 14:30 Uhr. So der Planverlauf. Als der IC, den ich nach Dortmund HBf fahren sollte, in Köln HBf am Bahnsteig zum Stehen gekommen war, öffnete der Frankfurter Kollege mir die Einstiegstür und sagte: „Fahrmotor 3 ist defekt, ansonsten läuft alles.“ Und er machte sich davon. Da erfaßte mich diese altbekannte Panik, unter deren Einfluß ich hinter jedem Brückenpfeiler oder Gebüsch einen potentiellen Selbstmörder hervorspringen sah. Erster Dienst nach dem Urlaub und schon wieder Sch… mit dieser E 101…! Meine Psyche überreagierte, doch dagegen vermochte ich mich nicht zu wehren; ich hatte in Herzgegegend und Magenbereich jenes Gefühl des heftigen Erschreckens – allerdings permanent. ‚Ruhig, Junge, vernünftig bleiben!‘ dachte ich intensiv, doch es half so gut wie nichts. Klasse, „einen an der Waffel“ und dann mit drei Fahrmotoren den Zug mit 13 Wagen über die Steigungen der Strecke Solingen-Ohligs – Wuppertal – Hagen bringen. Irgendwie schaffte ich es, sogar die Bremsungen verliefen einwandfrei, aus dem tiefsten Unterbewußtsein kommend. In Dortmund in die Kantine, eine Tasse Kaffee und ein Käsebrötchen. Meine Hände zitterten dermaßen, daß ich einen Klecks Kaffee verschüttete. „Wat is‘ denn los mit dir?‘, fragte ein Dortmunder Kollege mitfühlend. Meine qualifizierte Lüge als Antwort: „Ach weißt du, bei Witten wäre mir beinahe eine Frau unter die Lok geraten – ging gerade nochmal gut!“ „Au, dat is‘ Scheiße! Grade ‘ne Frau, dat haut in die Psyche, woll?! Kenn‘ ich! Getz‘ denk an wat anderes, mach dich nich‘ verrückt!“ Wir unterhielten uns noch ganz angeregt und meine Panik baute ab – solange, bis ich meinen Gegenzug übernahm, mit diesem vermaledeiten Steuerwagen voraus. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich die Fahrt durchzog, doch ich war plan und die Bremsungen funktionierten auch: langsamer als üblich, doch ruckfrei und punktgenau – abermals unterbewußte Aktionen und Reaktionen.
Nun nur noch diesen Zug aus Dresden ablösen. Während ich auf ihn wartete, kam mir ein kluger Gedanke: Ich würde gleich zum Chef, dem netten Herrn Sk., gehen und einen Monat unbezahlten Urlaub beantragen. Mir wurde sogleich besser. Die E 112 kam neben mir zum Stehen. „Alles klar“, sagte der anbringende Kollege und ich sah mich ohne tiefere Absicht auf dem Führerstand um. Sicher, der war moderner als sein Pendant auf der 143, doch auch diese Lok, die E 112, besaß jenen „verdienten Rechner des Volkes“, der in Doppel- und besonders in Triebkopftraktion mit den unglaublichsten Aktivitäten das Leben des Lokführers bereicherte – ich stand irgendwann mal kurz davor, mir einen Vorschlaghammer zu besorgen… Ausfahrt Hp2, Zp9, mit der Hilfssteuerung den einen Kilometer zum Betriebsbahnhof gefahren, am üblichen Platz angehalten, Stromabnehmer nieder, der Kuppler hängte ab, Bügel hoch, Sh1 stand und ich fuhr über die Drehscheibe aufs Abstellgleis. Aus beruflichem Ehrgeiz führte ich eine sorgfältige A1 durch, kontrollierte unter anderem sorgsam die Stromüberbrückungslitzen des Gummiringfeder-Ersatzantriebes – alles okay, im Übergabebuch unterschrieben und Feierabend (soll heißen: nur noch Fahrgast zum Hauptbahnhof, aber das hatte erstmal Zeit). Auf der Lokleitung meinen Betriebsleistungszettel abgegeben, dann zum Büro des Chefs, dort angeklopft und ein fröhliches „Herein!“ ertönte. Ich betrat das Büro. „Herr Berghoven – was kann ich für Sie tun?“ Ich schilderte mein Problem und bat um den Monat unbezahlten Urlaub. Das könne ich mir ohne weiteres leisten, da schuldenfrei und mit dem mittlerweile doch recht ansehnlichen Salär der Bahn und meinen Nebeneinnahmen aus journalistischer Tätigkeit abgefedert. Die Bahn würde das ja auch nichts kosten, im Gegenteil, sie spare einen Monat Gehalt und Nebengeld. Und krank melden wolle ich mich wegen unseres bekannt bürokratischen Bahnarztes nicht. Der Chef schaute mich lange an, dann: „Nein, Herr Berghoven, das ist keine Lösung! Ihre Probleme werden immer wieder auftauchen; daher: Sie sind zu alt, zu teuer und zu lädiert. Sie gehen besser in Pension. Bedenkzeit drei Tage.“ Das brach über mich herein wie eine Lawine. Doch ich behielt mit allerletzter Energie klaren Kopf und antwortete: „Wenn Sie das sagen … okay, dann ist Feierabend.“ Er ging noch mit mir zum Disponenten, der aus allen Wolken fiel, daß „sein“ Kurt ab sofort nicht mehr dasein würde. Ich empfand alles wie im Nebel stehend. Aus, Ende, vorbei … zumindest aber war mir der Horror der bewußten letzten Fahrt erspart geblieben.
Im folgenden Dezember veranstaltete die Dienststelle eine schöne kleine Feier, in deren Rahmen man mir die Entlassungsurkunde aushändigte, laut derer ich seither den Titel „Lokomotiv-Betriebsinspektor a.D.“ führen darf. Ein gutes Essen in einem Kölner Traditionsrestaurant machte den Tag rund, jenen Tag, an dem ich endgültig aus meinem Beruf ausgeschieden war.
Doch wirklich weggesteckt habe ich das bis heute nicht. Im Jahre 2003 fiel ich ein ganz tiefes psychisches Loch, aus dem drei erstklassige Ärzte, darunter ein Professor für Psychosomatik der Universitätsklinik Bonn, mich wieder herausholten. Seither geht es … wenn auch manchmal die Erinnerungen hochkochen, Erinnerungen, die ich in diesem Buch zum Teil verarbeitete. Ich hätte noch einige weitere Geschichten erzählen können – doch weniger ist halt zuweilen mehr…
Puhhhhhh - diese letzte Geschichte war schon hart zu lesen. Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht, aber dass das mit der Pensionierung nich so ohne ist, das glaub ich gern.
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21.11.2014 17:20
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Grüße aus Süddeutschland 
