na ihr seid ja Schlawiner!!! Den Lehrkörper derart zu schocken!!! Achtung, Kurzschlußgefahr!!!
Jetzt stelle Dir mal vor, hier lesen junge EiB's mit. Was meinst, welche Berufsschule noch sicher ist... Aber, das gehört einfach dazu. Denn unsere Herren Ausbilder haben in ihrer Ausbildung doch die selben Flausen ausgelebt. Wenn es auch andere Konsequenzen hatte, dem Spaß war es aber sicher Wert!!! Denn ernst ist das Leben doch zur genüge... Was ich jedoch finde, jeder Spaß solle einen gut durchdachten Sinn haben, niveauvoll sein und keinen Schaden anrichten. Und dies habt ihr ja trefflichst umgesetzt.
Kurt, ich habe wieder köstlich gelacht. Macht die Nachtschichten doch erheblich erträglicher.
freut mich echt, daß meine Storys Dir den Nachtdienst "verkürzt" haben. Nachtdienst ... hmm, wenn ich an unsere gefürchtete "S-Bahn-Nacht" denke, die von 1991 bis 1993 einen der Dienstpläne bereicherte...
Die S 6 von Köln nach Essen, wenn ich mich recht entsinne, um die 35 Halte in einer Richtung, hin und zurück also 70 mal halten, aufstehen, Fenster auf, rausgucken, Abfertigungsprocedere, Fenster zu, hinsetzen, fahren. In der erwähnten Nacht ging's zweimal nach Essen, also während der Schicht 140 mal angehalten. Und mit der von mir ungeliebten E 143 kamen noch die Bedienungserschwernisse hinzu: Das Führerbremsventil Knorr D-2 ist gut, aber nicht bei dieser Bedienungsdichte. Das Trumm vibrierte in der Hand, derweil der "verdiente Rechner des Volkes" seine Entscheidungen traf...
Zwölf Stunden währte die Nachtschicht, und gegen 4:00 Uhr, wenn man so richtig "platt" war - nach rund drei Stunden Standzeit in Köln-Betriebsbahnhof -, ging's zum zweitenmal nach Essen und retour. "In den drei Stunden konntest Du doch schlafen", so der oft gehörte Einwand. Hätte, schon, mit Drahtseilnerven; aber alle ca. Viertelstunde begann der Luftpresser zu ballern, die ganze Wellblechkonstruktion zitterte. Schön...
Fazit: Sei froh, daß Du Güterzüge fährst!
Beste Grüße: Kurt
PS.: Der zweite Teil der Schulgeschichten ist in Arbeit.
wie „angedroht“, nun der zweite Teil der Schul-Storys. In der Realität lagen zwischen dem Lehrgang in Troisdorf und dem technischen Endspurt in der Bundesbahnschule Kassel rund sieben Monate, ein Zeitraum, der mit fortbildenden Kurzlehrgängen sowie (in meinem Falle) zwischen diesen mit dem weiteren Dienst als Beimann im Güterzug vonstatten ging. „Betriebserfahrung ist die Butter aufs Brot“, pflegte der Gremberger B-Gruppenleiter zu sagen – und er hatte recht. Doch kommen wir zum Thema:
Bundesbahnschule Kassel, Teil 1: Aschrottstraße Kassel liegt im östlichen Hessen in recht bergiger Gegend; im Krieg wegen der Bahn- und Industrieansiedlungen stark in Mitleidenschaft gezogen, zeigte sich die Stadt uns im Juni/Juli 1972 im Bereich des Hauptbahnhofs mit den modernistischen Bausünden jener Zeit, doch es existierten auch noch viele schöne Häuser aus dem ausgehenden 19. und angehenden 20. Jahrhundert. Bemerkenswert fand ich das hochentwickelte Straßenbahnnetz der Stadt und nicht zuletzt die enormen Steigungen, welche die Triebwagen zu bewältigen hatten. Wir fuhren vom Bahnhof immer mit der Straßenbahn zur Aschrottstraße, wo die Schule lag. Im Bereich des Bebelplatz nahm die Bahn eine Steigung, die den Flachlandeisenbahner nur staunen ließ. Noch deftiger ging’s auf der Linie Richtung „Hessenschanze“ zur Sache – für Straßenbahnfreunde war Kassel ein sicherer Tip. Kommen wir wieder auf die Schule zurück. Wie ich im vorherigen Teil schon schrieb, gab es zwei Schulniederlassungen in Kassel, nämlich jene in der Aschrottstraße und die in Kassel-Wilhelmshöhe; die ersten drei Wochen verbrachten wir in der Aschrottstraße. Das Haus hatte eine wechselvolle Geschichte hinter sich, war im klassizistischen Stil erbaut, mit einigen Barock-Anklängen. Zu meiner Zeit Schulgebäude, verkaufte die DB es später und es beherbergte viele Jahre – wie ich durch verkettete Zufälle erfuhr – ein Altersheim. Was aus dem Haus letzten Endes geworden ist, weiß ich leider nicht, denn die Seniorenwohnstätte ist ebenfalls Geschichte.
Der vierwöchige Lehrgang fand wieder internatsmäßig statt und wegen der weiten Anreise zeigte sich der Unterrichtsplan entgegenkommend: Beginn montags ab 13:00 Uhr, Unterrichtsende freitags nach dem Mittagessen. Auf diese Weise gestalteten sich An- und Abreise relativ problemlos; montags kamen wir stets mit dem letzten Zug in Kassel an, erwischten die Anschlußstraßenbahn bis Bebelplatz und weiter zur Aschrottstraße. Wir (ein Grüppchen von vier Mann, drei Kollegen und ich, die wir bei den Ausbildungen am Fahrzeug und den Fahrtagen auch immer zusammen waren) stiegen nächtens gegen 23:00 Uhr am Bebelplatz aus, weil wir nach der langen Reise hungrig waren und dort ein richtig gutes Imbißrestaurant („Bude“ trifft es nicht) mit Tischen und Stühlen noch geöffnet hatte und zum Verzehr von Bratwurst, Schnitzel, Pommes und dergleichen einlud. „Zur Haltestelle“ hieß die Location, wie man neudeutsch sagt; vielleicht erwähne ich sie nochmal, je nach dem, wie sich die Geschichte entwickelt, wie „der Film im Kopf“ sie gestaltet…
In Kassel wurde Theorie gebüffelt, lediglich an einem Tag angereichert mit dem Besuch des Ausbesserungswerkes, wo wir in den zuvor auf Zeichnungen in Schemata gesehenen Bauteilen realiter versinken konnten. Pläne, Pläne und nochmals Pläne: Elektrik, Druckluft, Hydraulik, Ölkreisläufe,Turbolader, Einspritzsysteme, Kühlwasseranlagen, tagelang die sehr komplizierte Hagenuk-Dampfheizung, die bei V 100, V 216 und V 215 bei niedrigen Außentemperaturen für die Zugheizung benötigt wurde. Zwar stand die serienmäßige V 218 mit generatorelektrischer Zugheizung bereits im Plandienst, doch die „Dampfer“ waren zahlenmäßig weit überlegen. Und wieder Druckluft – Bremsbauarten und -funktionen „bis zum Erbrechen“. Mitunter, um die rauchenden Köpfe etwas abzukühlen, gab’s einen Lehrfilm zu sehen: über Projektor, 16-mm-Film und Leinwand. Das war zuweilen hilfreich; ich zumindest verstand die Funktion des „Schöpfrohrs“ beim Voith-Regelventilator nicht recht – der Film machte die Wirkungsweise deutlich, Problem abgehakt. Wo wir gerade bei der Hydraulik sind: Ein weites Feld mit vielen prüfungsseitigen Fußangeln stellte die hydrostatische Lüfteranlage dar, wie sie auf praktisch allen Dieselloks beim Kühlsystem Verwendung fand. Stunden- und tagelang kämpften wir uns durch Baupläne, malten sie zwecks besserer Durchschaubarkeit farbig aus … die „Lehrkörper“ beschäftigten uns bis zur Grenze. Kaum schien es entspannter zu werden, kam die Sprache auf Diesellok-Sonderbauarten wie die nur in einem Exemplar gebaute V 320 (die „doppelte V 215“, ein Sechsachser), die V 219 mit „HeiDi“ … „HeiDi“ war das Kürzel für „Heizdiesel“, diese Prototyp-Lok besaß für den Zugheizgenerator einen separaten, ungefähr 500 PS leistenden Dieselmotor. Wie vollgepackt ihr Maschinenraum war, muß ich sicher nicht im einzelnen erklären? Arme Werkstatt! Apropos: In jeder Diesellok gab es einen „HiDi“ (Hilfsdiesel), das war ein 22 PS starker Zweizylinderdiesel mit Luftkühlung, dessen Anlaßlichtmaschine nach dem Start als Generator geschaltet wurde und dem Laden der Batterie sowie der Versorgung der Hilfsbetriebe bei längeren Standzeiten diente. Es war immer ein netter Spaß, den HiDi zu starten, wenn gerade Fans die Lok umlagerten: das bollernde, leicht blecherne Laufgeräusch des HiDi erinnerte lebhaft an einen Trecker und brachte bei den Liebhabern so manches Weltbild ins Wanken…
Wir hatten in Kassel zwar auch unseren Spaß, doch den mußten wir mühsam abknapsen, denn der Unterrichtsstoff war wirklich extrem in Menge und Detaillierung. Und damit bin ich beim eigentlichen Thema: Wie ging’s zu in dieser Bundesbahnschule? Daß viel, sehr viel Arbeit anstand, habe ich gesagt; doch wir wären nicht der selbsternannte „Weltbeste Lokführerlehrgang aller Zeiten“ gewesen, hätten wir nicht Schlupflöcher und Freiräume gefunden…
Die „Lehrkörper“ waren teils bemerkenswert, weil Originale, positiv oder negativ gesehen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen (die Namen sind so verändert, daß Rückschlüsse auf die wahren kaum möglich sind):
Unser Klassenlehrer, Herr Achtershausen, stand am Anfang des 60. Lebensjahres, war pädagogisch keine besonders helle Leuchte, beherrschte als Ingenieur sein Metier zwar perfekt, doch es vermitteln, zählte nicht zu seinen Stärken. Er erklärte in aller Regel „um drei Ecken herum“ und es kam vor, daß ich (und nicht nur ich) die Zusammenhänge erst nach längerem Nachdenken und eigenen Erklärungsversuchen begriff. Eines heißen Sommertages stand die gefürchtete „Probearbeit“ an, eine richtige Klassenarbeit, wie früher in der Schule, nur hing diesmal die berufliche Zukunft daran. Solche Arbeiten wurden in jeder Sparte in jedem Lehrgangsabschnitt geschrieben (Betriebsdienst, Dieselmotoren, hydraulische Getriebe, Druckluftbremsen, Elektrik der Loks, Kühlsysteme, allgemeine Lokomotivtechnik sowie darin enthalten Lauf- und Schwingungstechnik, ferner technischer Wagendienst, und diverses mehr) – und wer die versiebte, brauchte erst gar nicht zur Abschlußprüfung anzutreten. Die Probearbeiten waren also zu recht gefürchtet. Ich machte mir da weniger Sorgen, weil ich als Fünfzehnjähriger per Zufall ein System gefunden und mir angeeignet hatte, das auf sogenanntem „multiprozessoralem Lernen“ beruht; man muß das zu Lernende interessant finden, mehrfach verknüpfen und sich auf das Unterbewußtsein verlassen. Rund 90 Prozent aller Menschen können das, doch nur wenige trauen sich… Das ist ein „Bit-intensives“ System: zuweilen merke ich mir einen einzigen Begriff über die gedankliche Verbindung mit laufenden Bildern oder Begebenheiten, im Gegenzug kommt es vor, daß minimale Eselsbrücken ausreichen. Mit dieser Lerntechnik ist niemals ein „Sehr gut“ möglich, weil sie Fakten nur zu 80 – 85 Prozent sicher im Kopf verankert; doch besser eine „faule 2“ als eine „gepaukte 1“, so mein Kommentar dazu. Leider versagt in meinem Falle das System bei Mathematik – in dieser Wissenschaft bin ich die totale Null. Egal, obiger Schlenker sollte nur die Hintergründe der folgenden Story klarstellen. Lehrkörper Achtershausen verteilte die obligatorischen zehn Fragen, damals mit Typenhebelschreibmaschine getippt und auf dem Vervielfältigungsgerät kopiert. Die richtige Beantwortung jeder Frage brachte zehn Punkte, maximal waren also 100 Punkte erreichbar; die individuelle Punktzahl wurde auf mir (mathematisch!) unverständlicher Basis dann in Schulnoten umgerechnet. „Das mußte ja kommen!“, flüsterte mein Sitzbanknachbar, Kollege L., mir zu. Er meinte Frage 1, die gleich in die Vollen ging: „Nennen Sie sämtliche elektrischen Bauteile im hinteren Vorbau der Baureihe V 100.“ „Augen zu und durch!“, flüsterte ich zurück und erntete einen Verweis des Lehrers: „Bitte Ruhe, meine Herren!“ Schreiben war schon immer meine heimliche Liebe und damals übte ich mich gerade in endlosen Schachtelsätzen; Auslöser war die humorvolle Kurzgeschichte „Die schreckliche deutsche Sprache“ von Mark Twain gewesen. Da Frage 1 eine echte Hinterfotzigkeit war, schaltete ich „das Video im Kopf“ ein, erinnerte mich an meine Werkstattzeit im BW Nippes, sah den hinteren Vorbau der V 100 vor mir und begann, alles was mit Elektrik zu tun hatte, in einen Endlossatz zu fassen. Am Schluß füllte der Satz anderthalb DIN-A4-Seiten, entzückte den Leser mit Rückbezügen und trennbaren Verben, war sowas wie ein sprachliches Sumpfgebiet: überall konnte man versinken. Und er zeitigte Erfolg: Vor lauter Grammatik und Syntax hatte ich ein wichtiges, großes, elektrisches Bauteil vergessen: Luftpresser 2. Doch unser guter Herr Achtershausen hatte dermaßen zu tun, durch die verklausulierten Formulierungen zu waten, daß er diesen gravierenden Fehler übersah: Zehn Punkte, Maximum. Infolge meines 80/85-Prozent-Systems gab’s am Schluß trotzdem nur eine „2“ – zufrieden war ich dennoch.
Jetzt habe ich eigentlich zu viel über mich gequasselt, trotzdem muß ich nochmal in der Hauptrolle auftreten: Auch in Kassel gab’s den freien Nachmittag zwecks Besichtigung örtlicher Sehenswürdigkeiten. Die Stadt bot mehr als Troisdorf und um die Erwanderung des Herkules-Denkmals kam man nicht herum. Unter Achtershausens sachkundiger Führung erkletterten wir das auf mich leicht kitschig wirkende Monument, an dessen Spitze die eherne Figur des Helden Herkules prangt – überzogen von grüner Patina. Am nächsten Tag kam Achtershausen auf die kindliche Idee, wir sollten über den gestrigen Ausflug einen Aufsatz schreiben! Weil das nun gar nichts mit Lokführerausbildung zu tun hatte, legte ich in meiner Eigenschaft als Klassensprecher Veto ein. Es entstand ein erheblicher Streit mit dem Lehrkörper, der betonte, diese schriftliche Arbeit sei Tätigkeitsnachweis und in dessen Verlauf er schließlich meinte, es würde reichen, wenn ich in Vertretung der Klasse den Aufsatz schriebe. An diesem Ansinnen hielt er stur fest – und weil ich halt gerne schreibe, tat ich ihm den Gefallen, allerdings auf andere Art als erwartet. Es wurde eine Satire, die sich hauptsächlich mit der Patina des Herkules und dessen folglich grünem Hintern befaßte. Achtershausen war sauer.
Wenige Tage später. Amtslehrer Achtershausen kämpfte sich durch die Erklärungen zur hydrodynamischen Bremse der V 215, zeichnete zum besseren Verständnis einige Skizzen an die Tafel, referierte über die Aufgabe der Ventilationsschieber. Kollege V., knapp über 30, gelernter KFZ-Meister und immer seriös auftretend, meldete sich: „Herr Achtershausen, Entschuldigung – dürfte ich mal austreten?“ „Selbstverständlich, Herr V., bitte sehr!“ Der Lehrkörper war gerade dabei, die Folgen nicht schließender Ventilationsschieber darzustellen, als V. zurückkam. Mit der Zunge beulte er eine Wange so aus, daß es aussah, als ob er ein großes Bonbon im Munde habe und sagte verschliffen: „Hmmm, diese weißen Steine aus den Pinkelbecken – einfach lecker!“ Achtershausen fiel die Kreide aus der Hand: „Also wirklich – das ist ja widerlich!“ „Wieso? Hmm, hier ist ein Loch reingepinkelt…“ „Herr V., wenn Sie nicht sofort mit den Schweinereien aufhören, setze ich Sie vor die Tür!“ Kollege V. gab nach und bezog wortlos seinen Platz, derweil wir immer noch kichern mußten.
Im Unterrichtsfach „Druckluftbremsen“ hatten wir einen Lehrer, der heute völlig undenkbar wäre: Amtslehrer Eckers, klein, dick und Hosen „auf Hochwasser“. Ein hervorragender Fachman auf dem Gebiet der Druckluftbremsen, fast alle Unterrichtsmaterialien dazu stammten von ihm! Leider aber war er ein strammer Nazi, was er öffentlich bekannte: „Meine Herren, es heißt, der Eckers ist ein Nazi. Jawoll, das stimmt! Unter Adolf Hitler herrschte noch Zucht und Ordnung, da konnte eine alte Frau mit zehntausend Mark in der Tasche noch ungefährdet über die Straße gehen!“ Kollege L. konterte: „Zu Adolfs Zeiten hatten alte Frauen mit zehntausend Mark in der Tasche ihren Leibwächter; andere Alte besaßen niemals soviel Geld!“ „Sie sind viel zu jung, um das zu wissen!“ Argumentativ ging’s nicht, also anders: Am nächsten Morgen betrat Eckers das Klassenzimmer, dick, rund, zackig, die Hosenumschläge wieder eine Handbreit über den Schuhen. Kollege O., der Boxmeister im Schwergewicht, dröhnte: „Der kommt vom Fröschefangen!“ Eckers sagte nichts, zog seinen Unterricht aber ohne politische Einlagen durch. Tags darauf packte es ihn wieder und er referierte zwischen Steuerventil und Bremsgestänge über die „kulturlosen Langhaarigen, die alle zwangsrasiert gehörten“. Nun trugen wir – 1972 – praktisch alle das Haar schulterlang, von vier, fünf älteren Kollegen abgesehen, die schon Familie hatten. Eckers traf mit seinen Tiraden daher die Mehrheit – und die schwieg nicht: Der neben mir sitzende Kollege L. zog einen 10-DM-Schein aus dem Portemonnaie, der ein Portrait von Albrecht Dürer zeigte, Dürer mit wallender Mähne, wie sie keiner von uns vorweisen konnte: „Herr Eckers meint, er habe recht, wenn er behauptet, Langhaarige seien kulturlose Banausen“, sagte Kollege L. und hielt den Geldschein hoch, legte nach: „Pech für ihn, daß dieser Langhaarige hier Albrecht Dürer ist.“ Eckers wehrte ab: „Das war halt der Zeitgeist.“ „Zeitgeist – wie heute, nur nennt man’s jetzt Mode. Und besser aussehen als diese preußischen Militärnacken tut’s auch! Noch Fragen?“ Kollege L. war wütend. „Kommen wir wieder zur Funktion des Knorr-K8…“ Eckers hatte genug für diesen Tag.
Eine Woche später erfreuten wir ihn mit unseren musikalischen Fähigkeiten: Zwischen diversen Gläsern Bier hatten wir einen Agit-Prop-Song einstudiert, den wir anstimmten, als Eckers die Klasse betrat: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit…“; zwei Tage später folgte „Avanti populo…“, die Hymne der italienischen Kommunisten. Eckers politisierte nie wieder, gewiß war er überzeugt, es mit einer „verwilderten Horde Linker“ zu tun zu haben … klar doch, die langen Haare…
Stichwort „Bier“: Bekanntermaßen sind die Hessen Weltmeister in der Wurstherstellung, doch das in Kassel ausgeschenkte Bier … Grauen in Gläsern. Ich meine damit speziell ein Pilsner, dessen Name aus juristischen Gründen außen vor bleiben muß, doch hieß es so wie ein italienischer Kräuterwein und kam von einer Brauerei, deren Name einer halsinternen Mißbildung entsprach. Dieser Trank schmeckte wie gebackene Legionärswollsocken nach einem Wüstenmarsch, verfeinert mit bitterer Schmerztablette. Doch die Not trieb’s rein und wenn wir nach dem Wochenende nachts in der Pinte „Zur Haltestelle“ aufliefen, der Wirt uns mit „N’abend Jungs“ begrüßt hatte, gab’s Currywurst und jenes köstliche Bier … momentan habe ich den Geschmack wieder auf der Zunge…
Weil das Bier richtigen Frust erzeugte, kam einer unserer Zimmergenossenschaft (acht Mann in Etagenbetten – heute kaum noch vorstellbar!) auf den klugen Gedanken, zur Arbeit mit dem Schaltplan der V 100 was Gutes zu trinken. Einschub: Der genannte Schaltplan bestand aus zahlreichen DIN-A4-Blättern, die an ihrer Schmalseite der Reihe nach zusammengeklebt werden mußten – das Ergebnis war sage und schreibe sieben (7) Meter lang! Natürlich war diese Kleberei eine Freizeitbeschäftigung, weil es im dichtgepackten Unterricht dafür keine Gelegenheit gab. Dummerweise machte ich den Vorschlag, doch was für Männer zu besorgen: Wenn’s mit den Mädels schon mau war, sollten wir wenigstens mal richtig einen zur Brust nehmen. Gesagt, getan: Auf dem Tisch, der die Unterlage für die Klebeorgie bildete, prangte eine Flasche Asmussen-Rum, 54prozentig, versteht sich. Gläser? Hmm, mit der Kantine hatten wir Dauerzoff, die würden nichts rausrücken. Idee: Die Zahnputzbecher! Ich will’s kurz machen: Mit meinen damals zarten 23 Lebensjahren fehlte mir die entsprechende Erfahrung … 54er Rum aus Zahnputzbechern … der Schaltplan, anfangs sauber geklebt, entwickelte sich zunehmend zur Zick-Zack-Linie … nachts aufgewacht, Übelkeitswelle, „Würfelhusten“ auf der Toilette … morgens bleich, zittrig, kaputt, restlos fertig … „Hau‘ rein!“, rief Kollege St. am Frühstückstisch und biß herzhaft in ein Brötchen … Übelkeitswelle, raus wie der Blitz und … na ja… Es dauerte bis zum nächsten Tag, bis ich wieder völlig auf dem Damm war. Kommentar des Lehrkörpers: „Na, Obmann, geht’s wieder?“ (Er nannte mich wegen des Klassensprecheramtes immer so.) Ich gab keine Antwort, nickte lediglich, weil die Geschichte mir peinlich war.
Weiter vorne erwähnte ich unseren „Dauerzoff“ mit der Kantine. Die nämlich glänzte mit Knauserei und Frechheit. An einem Tag stand auf der Karte: „Schweinerollbraten mit Salzkartoffeln und Rosenkohl“. Und wißt Ihr, was die auf den Teller brachten? Eine gehäufte Portion trockener, gedämpfter Kartoffeln, an denen man sich die Speicheldrüsen erschöpfte, der Rosenkohl erwies sich als Mehlschwitze, in der hier und da mal eine grüne Schluse auftauchte, und als Krönung erhielt jeder eine halbe (halbe!) Scheibe Rollbraten. Daß dies Meuterei auslöste, war wohl klar. Der leitende Küchenbulle aber rechnete uns vor, mit welchen Minimalkalkulationen er arbeiten und uns dennoch alle sattkriegen mußte. Dagegen argumentiere dann mal. Ergo blieb nur ein massiver Streich als Rache, aber was?
Kollege Sch., einer unserer drei „Kleiderschränke“ (türrahmenverfinsterndes Kreuz, etwa 1,90 Meter groß), klagte über heftige Zahnschmerzen. Weil bei mir eine Plombe Probleme machte, schloß ich mich ihm solidarisch an und wir suchten, unsere Angst gemeinsam bekämpfend, den von Herrn Achtershausen empfohlenen Zahnarzt auf. Sch. kam vor mir dran und ich durfte meine Panik noch eine gute Weile genießen… Dann: „Herr W. bitte!“ Mit kaltem Schweiß auf der Stirn setzte ich mich in den Folterstuhl – und verlor binnen kurzem jede Angst vor dem Zahnarzt: Dr. Barchfeld (das war sein wirklicher Name) erwies sich als vorbildlicher Meister seiner Kunst, ich spürte absolut nichts, nur das Geräusch des damals neuartigen Turbinenbohrers zerrte an den Nerven. Es ging rasch – und innerlich zufrieden verließ ich das Behandlungszimmer, nicht ohne dem Doc ehrlich zu danken. Draußen erwartete mich Sch.: Ihm hatte der Arzt den rechten Weisheitszahn ziehen müssen; der Kollege zeigte mir das in ein Tempotaschentuch eingewickelte Monster, grinste diabolisch und meinte: „Damit machen wir morgen die Kantine fertig!“ Das erschloß sich mir nicht ganz, weshalb ich nur antwortete: „Da bin ich gespannt.“ Der nächste Tag brachte eine neue Schülergruppe; sie hatte den ersten Unterrichtstag vor sich und war daher so angereist, daß sie mit dem Mittagessen in der Kantine begann. Es gab Linsensuppe mit Bockwurst, letztere natürlich in dünne Scheibchen geschnitten, vielleicht eine Viertelwurst pro Person. Alles löffelte andächtig. Sch. nahm das bekannte Tempotuch aus der Hosentasche, öffnete es taschenspielerartig, schöpfte aus seinem Rest Suppe einen Löffelvoll, legte den Weisheitszahn dazu, hob den Löffel hoch und brüllte: „Sauerei!!!“ Alles blickte erschrocken zu ihm hin. Die Neuen sahen den Zahn in der Suppe und schüttelten sich vor Ekel, schoben entrüstet die Teller von sich weg. Der Küchenbulle kam angewetzt und schrie Sch. an, diesen Blödsinn werde er teuer bezahlen! Langsam stand Sch. auf und als er sich zur vollen Länge erhoben hatte, war er einen Kopf größer als der Koch und knapp doppelt so breit. Kameradschaftlich wie wir stets handelten, standen unsere beiden anderen „Bären“ ebenfalls auf: Kollege O, der Boxmeister, und Kollege D., vormals Landmaschinenschlosser, mit Oberarmen, die Arni Schwarzenegger das Fürchten gelehrt hätten. Wortlos schauten sie den zusammenschrumpelnden Küchenbullen an, und als O. einen Schritt auf ihn zutat, rief der: „Ich nehme alles zurück! Morgen koche ich Ihnen was richtig Gutes!“ Und was soll ich noch lange herumreden: Tatsächlich besserte sich die Verpflegung, sogar drastisch! Offensichtlich reichte der Etat aus, und ebenso offensichtlich hatte wohl jemand in die eigene Tasche gewirtschaftet, vermute ich mal. Die „Neuen“ konnten wir nach dem Eklat beruhigen, indem wir ihnen alles erklärten.
Nun war die Schule dank des Neuzugangs wieder bis auf den letzten Platz belegt und die Verwaltung mußte ihre planerischen Fähigkeiten beweisen. Die äußerten sich ab dem folgenden Tage mit der Einführung des „Frühstücks in zwei Schichten“, weil die Sitzplatzkapazität der Kantine für alle anwesenden Azubis nicht ausreichte – und, Pech, wir erwischten die „erste Schicht“, das hieß, gegen sechs Uhr aufstehen, die morgendlichen Rituale zu vollziehen, um hernach um sieben Uhr fit und proper die Futterkrippe zu bevölkern. Es stank uns gewaltig, daß die anderen eine Stunde länger pennen konnten, da mußte doch was geschehen! Kollege E. kam auf die passende Idee: Er war vor seiner Eisenbahntätigkeit vier Jahre bei der Bundeswehr gewesen und führte ab dem zweiten Morgen unseres „Frühdienstes“ eine neue Modalität ein: Punkt sechs Uhr begab er sich ins hallige Treppenhaus und brüllte, gegebenenfalls zwei- bis dreimal, mit Kasernenhofstimme: „Kompanie – aufsteh’n!“ Verschrecktes Gewusel in den anderen Zimmern bewies die Wirksamkeit der ermunternden Aufforderung(en), nach der/denen E. stets blitzschnell in unsere Bude zurückkam, damit wir Minuten später mit kindlicher Unschuld den uns begegnenden Aufgeweckten sagen konnten, es sei doch wirklich eine Frechheit des geheimnisvollen Schreiers, uns derart aus den Träumen zu reißen…
Soweit also einige wenige Erlebnisse in der Bundesbahnschule Kassel, Aschrottstraße. Mehrere Begebenheiten der letzten „Kasseler Woche“, nämlich was sich in der Wilhelmshöhe zutrug, in Kürze an dieser Stelle.
wieder eine sehr schöne und ammüsante Story!!! Aber eines muß ich jetzt vom Fachmann wissen!!! War die 219, spätere 210, nicht die Gasturbinen-218 vom Bw Kempten??? Denn mir ist die HeiDi-V160 als 217 geläufig. Ich kann mich natürlich irren, da es auf unserer Seite ja keine V160-Familie gab und mein Wissen zu dieser Baureihenfamilie sehr dürr ausfällt.
Wie man hier allerdings sieht, ob Nazi oder Kommunist, alles hackt auf den langen Haaren jener Zeit rum...
Aber einfach wieder herrlich, vorallem der WC-Stein-Bonbon -> das wurde natürlich wieder bildlich!!!
danke für diese lange, aber sehr unterhaltsame Geschichte! Aber auch ich bin wie Micha über die 219 gestolpert. Wenn ich mein angelesenes Wissen zusammenbringe, dann war die Entwicklung der V160-Familie so:
1960 = V160 Vorserie (Lollo, beziehungsweise die V160 010 mit dem "Knick") daraus entwickelt sich die "normale" V160 und durch deren Verdoppelung entstand das Einzelstück V320 001. Da aber die elektrische Zugheizmöglichkeit fehlte und mit den 1900PS wohl kein separater Generator mehr zu betreiben war, probierte man rum. Eine zusätzliche Gasturbine erhielt die V169 001. Hier wurden die Verluste durch die elektrische Zugheizung im Bedarfsfalle durch die Gasturbine aufgefangen. Dann gab es die V162 mit dem separaten Heizdiesel und noch etwas später die V164 (aber bereits als 218 abgeliefert) mit dem mittlerweile verfügbaren 2500PS Diesel. Warum auch immer (ich hab's vergessen) wurde mit dem 2500PS Motor auch eine Variante mit Dampfheizung gebaut, die 215. Und um schwerer gewordene Schnellzüge mit nur einer Lok bespannen zu können, griff man das Gasturbinenprinzip wieder auf und ergänzte die 218 um selbige zur 210.
Ich hoffe meine grauen Zellen haben mich jetzt nicht allzusehr im Stich gelassen...
Ich freue mich auf die nächsten Geschichten vom Kurt!
wieder eine sehr schöne und ammüsante Story!!! Aber eines muß ich jetzt vom Fachmann wissen!!! War die 219, spätere 210, nicht die Gasturbinen-218 vom Bw Kempten??? Denn mir ist die HeiDi-V160 als 217 geläufig. Ich kann mich natürlich irren, da es auf unserer Seite ja keine V160-Familie gab und mein Wissen zu dieser Baureihenfamilie sehr dürr ausfällt.
Wie man hier allerdings sieht, ob Nazi oder Kommunist, alles hackt auf den langen Haaren jener Zeit rum...
Aber einfach wieder herrlich, vorallem der WC-Stein-Bonbon -> das wurde natürlich wieder bildlich!!!
Gruß Micha
Hallo Micha,
das mit den Loktypen (Benummerungen) kann schon so sein, wie Du schreibst - ich erzähle meine Geschichten aus dem Gedächtnis, da ist es leicht möglich, daß mal eine Unschärfe entsteht. Daher Dank an Dich und alle, die in solchen Fällen korrigierend eingreifen.
Die Gasturbinenlok - jetzt fällt es mir wieder ein - wurde im Unterricht erwähnt, aber sehr reserviert, weil die einen irren Spritverbrauch aufwies - und in jener Zeit begann ja gerade das erste Umweltverständnis zu greifen.
auch Dir Dank für die sachliche Korrektur! Was ich schon an Micha gepostet habe, gilt auch für Deine Zeilen.
An dieser Stelle noch eine Ergänzung: Wie ich bereits an Micha schrieb, begann um 1972 (nach Erscheinen des Berichts des Club of Rome, "Die Grenzen des Wachstums") das Umweltbewußtsein zu wachsen und die spritfressenden Gasturbinen (wurde auch mal auf dem VT 12 versucht) bekamen sehr schnell einen schlechten Ruf. Die DB konnte es sich schon aus Image-Gründen nicht mehr leisten, sowas auf die Strecke zu schicken.
Was nicht in die Öffentlichkeit gelangte, war die Umstellung in der Getriebetechnik: Alle Dieselloks fuhren mit hydraulischen Voith-Dreiganggetrieben (Anfahrwandler, Marschwandler, Kupplung). Dazu muß man wissen, daß ein Drehmomentwandler um die 83% Wirkungsgrad besitzt, die hydraulische Kupplung dagegen etwa 97%. Die V 216 ging - lastabhängig - bei etwa 80 bis 100 km/h in die Kupplung, womit sich ihr Wirkungsgrad stark erhöhte. Im Gefälle konnte man durch Schalten nach Fahrstufe 0 und anschließend Stufe 2 die Vollfüllung holen und mit derart gefüllter Kupplung die Bremswirkung des in "2" auf Leerlauf gesteuerten Diesels ausnutzen.
Die nachfolgende V 215 war mit Zweiganggetrieben ausgerüstet: Anfahrwandler, Marschwandler. Letzterer setzte ebenfalls lastabhängig (je schwerer der Zug, desto später und umgekehrt) bei ungefähr 85 - 100 km/h ein und blieb bis zur Höchstgeschwindigkeit (140 km/h im großen Vorgelegegang) wirksam. Die Konstrukteure wollten damit die geringfügigen Rucke vermeiden, die beim Umschalten aus der Füllungsüberschneidung entstanden. Das war Zweitens, als erster Grund wurde die einfachere Getriebekonstruktion genannt. Richtig - doch der Spritverbrauch lag unvermeidlicherweise deutlich höher als bei der V 216. Folglich wurden wir in der Fahrausbildung gezwiebelt, nur ja sparsam zu fahren, keine Umdrehung zu viel anstehen zu lassen. Das ging, wie man so schön sagt, in Fleisch und Blut über und bei meinem PKW (Viergangautomatik, Baujahr 1995) ertappe ich mich heute noch dabei, beim Fahren die alten Diesellok-Lehrsätze anzuwenden...
hiermit möchte ich zum dritten und letzten Teil der Schulgeschichten kommen. Es ist immer wieder interessant, welche Einzelheiten beim Schreiben in die Erinnerung zurückkommen, Einzelheiten, die ich längst vergessen glaubte. Daß dabei – wie in der letzten Folge geschehen – mal bei einer exotischen Lokomotiv-Sonderbauart die falsche Typennnummer reinrutscht, bitte ich zu verstehen und zu entschuldigen: Wir wurden damals auf die Technik der Fahrzeugte trainiert, Benummerungen waren eingentlich nie ein Thema; es gab die Serienbauarten V 60, 90, 100, 213, 216, 215 und 218, abweichende Bauformen wurden erwähnt (wie die Lok mit HeiDi), jedoch – weil halt für uns betrieblich ohne Belang – nicht bis hin zur Benummerungsgestaltung durchgearbeitet. Was gut war, denn sonst hätten wir noch mehr büffeln müssen…
Bundesbahnschule Kassel, Teil 2: Wilhelmshöhe Die letzte der vier Wochen in Kassel stand bevor. Anläßlich der Abreise am vorhergehenden Freitag hatte man uns informiert, daß wir uns am kommenden Montag in der Schulniederlassung Wilhelmshöhe melden sollten; entsprechende Lagepläne und Verzeichnisse der Verkehrsmittel waren jedem persönlich ausgehändigt worden. So konnten wir bereits während der Heimreise ins Wochenende planen, wann und wo wir uns montags treffen wollten. Der Zug von Kassel nach Köln (und umgekehrt) fuhr durch das landschaftlich schöne Sauerland, über Scherfede und Brilon bis Hagen; dort fand Lokwechsel statt: die V 218, die den Zug von Kassel bis Hagen gebracht hatte, wurde gegen eine Ellok getauscht. Mehrfach war die Überlegung aufgekommen, mal eine andere Strecke zu fahren, doch das Kursbuch erwies sich als gnadenlos: Auf der einzig möglichen alternativen Route wären in Paderborn und Hamm Umsteigeaktionen angefallen, welche den reinen Fahrzeitgewinn zunichte machten. Und nur wegen einer anderen „Außenoptik“ zweimal umsteigen, mit Sack und Pack? Wir entschieden uns dagegen und fuhren also weiterhin durchs Sauerland.
Montag, Beginn der letzten Ausbildungswoche. Wir gingen vom Bahnhofsvorplatz in Kassel zur Haltestellte der Straßenbahn nach Wilhelmshöhe, die sich dank der genauen Anweisungen im Verzeichnis der Verkehrsmittel leicht finden ließ. Es war kurz vor Mittag, nicht gerade Hauptverkehrszeit, dennoch zeigte sich die Straßenbahn nahezu voll besetzt, gleichwohl fand unsere Truppe, bestehend aus fünf Kollegen und mir, die wirklich letzten Sitzplätze (die Jungs aus Aachen, Stolberg, Krefeld und Koblenz waren mit einem anderen Zug gefahren, wohl die „Umsteigestrecke“, weshalb jetzt nur der Stolberger O. von ihnen dabei war). Mit schönem „Gleichstromsingen“ machte die Bahn an der nächsten Haltestelle Station – neben einigen Jugendlichen stieg eine ältere Dame ein und suchte vergeblich nach Sitzgelegenheiten. Kollege O., der Schwergewichtsboxer, stand auf und bot der Dame beflissen seinen Platz an (er war in der Tat ein absolut höflicher und wohlerzogener Mensch mit besten Umgangsformen; das Äußere trog, wie so oft). „Oh“, machte die Dame, „das ist sehr nett von Ihnen! Aber … jetzt müssen Sie ja den ganzen Weg über stehen…“ Mit seiner sonoren Reibeisenstimme wehrte O. in tadellosem Hochdeutsch ab: „Das macht nichts, ich habe gerade drei Jahre gesessen!“
In der Schule angekommen, gab es zunächst ein ziemliches Gewese: wer wir wären, was wir wollten und ob wir uns überhaupt ausweisen könnten. Als gewählter Klassensprecher („Obmann“, wie unser Lehrer stets sagte) übernahm ich die Erklärung der Zusammenhänge, präsentierte anschließend meinen Personal- sowie den Dienstausweis, legte die Ausbildungsverfügung, das Verkehrsmittelverzeichnis sowie ein Phantasiedokument auf den Tresen, das ein Kollege und ich vor Monaten aus Jux angefertigt hatten und das mich als staatlich geprüften Mitarbeiter der „Friedhofsüberwachung Rheinland“ legitimierte. Das machte Eindruck und der Beamte im Anmeldungsbüro schien das mit dem Eigenbaudokument nicht zu kapieren: er schaute kurz drüber, nickte und meinte, dann habe ja alles seine Ordnung. Wir sechs Mann erhielten einen Zimmerschlüssel – und im zweiten Stock im Domizil angekommen, stellten wir eine gegenüber der Aschrottstraße doch erhebliche Komfortverbesserung fest: Statt acht gab es nur sechs Betten im Zimmer, keine Etagenbetten, sondern „eingeschossige“, solide Eisenkonstruktionen à la Krankenhaus … im Verbund mit den hölzernen Spinden „urgemütlich“… Obwohl Kollege O. an und für sich mit seinen Leuten aus Aachen und Stolberg eine Zimmergemeinschaft hätte bilden sollen, blieb er bei uns, weil er keine Lust hatte, weiter rumzusuchen und möglicherweise nochmal mit diesem Anmeldebeamten zu tun zu bekommen. Und weil unser Gremberger Kollege Sch. (einer der drei „Kleiderschränke“) ein guter Kumpel von ihm war, der bereits mit O. und seiner eigenen Familie sowie dessen Frau und Kindern Pläne für gemeinsame Urlaubsaktivitäten schmiedete, lag darin ein weiterer Grund für O.s Entscheidung. Und weil auch D., der bärenstarke Landmaschinenschlosser, mit von der Partie war, lautete mein Kommentar: „Klasse, jetzt kann ich laut und frech werden, schließlich habe ich die drei schmalsten Kerlchen dabei…!“ „Dat kost‘ disch ab’r heut‘ abend ‘n Bier, wa!“, lachte O. Ich versprach, diese Gebühr zu bezahlen, was zu erneutem Gelächter führte, auch seitens der anderen zwei Zimmergenossen, den Kollegen St., genannt Robin Hood (kein Mensch wußte, warum) sowie E., der seiner Herkunft wegen den schönen Spitznamen „Eifelschreck“ führte. Nachdem wir uns eingerichtet hatten, gingen wir runter in die Kantine und prüften den Aushang mit dem Speisenangebot der folgenden Woche … das glänzte vor Einfallsreichtum: Heute, Montag, stand mittags Grünkohl mit Bratwurst und Salzkartoffeln auf der Liste, als kulinarische Alternative „Weiße Bohnensuppe“ – sowas an einem brühheißen Sommertag! Für den Abend entzückte die Offerte „Bockwurst mit Pommes frites“, Ausgabe von 16:00 bis 17:00 Uhr, danach wurde die Bude geschlossen. „Wat is‘ sisch dat denn für ‘nen Driet?“ (Was ist das denn für ein Dreck?) Kollege O. zeigte wenig Begeisterung. Ich hatte eine Erleuchtung: „Jungs, wißt ihr was? Wir nehmen jetzt jeder nur die nebenher angebotene Bockwurst mit Brötchen und suchen uns fürs Abendessen ein gutes Restaurant – was meint ihr?“ „Dä Kleen‘ ka’ste jebruche!“ (Den Kleinen kann man gebrauchen [im Sinne von „gute Ideen/Vorschläge“], bzw. „Mit dem Kleinen kann man was anfangen“), so Kollege Sch.s Zustimmung.
Nach dem frugalen Mittagessen versammelte sich unsere Mannschaft in der Klasse. Sie waren alle wieder da, die Kollegen der langen, ereignisreichen Ausbildungszeit, und wir freuten uns, nochmal in bewährter Manier gemeinsame schulische Abenteuer zu erleben. Wir warteten auf unseren Amtslehrer, der zeitlich überfällig war. „Wo bleibt der Lehrkörper?!“, tönte St. vorwurfsvoll. „Ich komme ja schon, meine Herren, ich habe im Stau gesteckt“, rechtfertigte sich der just in diesem Moment eilig den Raum betretende Achtershausen leicht echauffiert. „Ha – da sieht man’s wieder, was Amtslehrer verdienen! Draußen der Bentley, ist das Ihr Auto, Herr Achtershausen?“, lästerte M. Der sonst so trockene Lehrer mußte kurz lachen: „Schön wär’s! Sooo … haben Sie alle Ihre Unterlagen? Sehr gut, dann beschäftigen wir uns heute mit den Gmeinder-Achstrieben und allgemein mit dem Fahrwerk der V 215…“ Er war an diesem Tag gut drauf, denn er ergänzte: „Und wenn Herr V. etwas zum Naschen sucht, die Herrentoilette mit den weißen Steinen befindet sich am Ende des Ganges.“ „Mahlzeit!“, kicherte Mitschüler K. Ich gab noch rasch meinen Geistesblitz von wegen „Endes des Ganges“ – ist das eine indische Toilette? – zum Besten, dann stürzten wir uns in die Technik.
Des Abends schlenderten wir durch den Ortsteil Wilhelmshöhe – die Hitze des Tages hatte nachgelassen und einige Wolken sowie leichter Wind gestalteten die Temperaturen recht angenehm. Wir schauten in diese und jene Pinte hinein: Nein, ist nichts, weitersuchen. Endlich fanden wir ein kleineres Restaurant, ich glaube, mich zu erinnern, daß es an einem Hang lag und schöne Aussicht bot. Fakt ist, daß es über einen gepflegten Garten mit Tischen, Stühlen und Sonnenschirmen verfügte; das Lokal hieß „Grill-Coupé“ und sein Innenraum war einem Reisezugwagen nachempfunden. Hier waren wir richtig! Unsere „Zellengemeinschaft“, wie „Eifelschreck“ zu sagen pflegte, ließ sich im Garten nieder und wir fanden die Entscheidung während und nach dem Essen rundum bestätigt: Für 12,80 DM gab es ein Schnitzel mit Pilzen, Kroketten und buntem Salat. Die bildhübsche Kellnerin zeigte Humor, als ich sie fragte, ob wir wegen der Pilze im Voraus bezahlen müßten… Das Beste aber war: Im Grill-Coupé gab’s richtiges Bier, König-Pilsner vom Faß, eine Offenbarung gegenüber der bisher gehabten Plörre. „Jetzt wissen wir, wo abends gegessen wird!“ Zur Bekräftigung seiner Worte klopfte D. leicht auf den Tisch. Wir schlossen uns an und die Kellnerin – je öfter ich hinsah, desto umwerfender geriet ihre Ähnlichkeit mit Claudia Cardinale – brachte für jeden noch ein Köpi.
Allmählich ließ der verrückte Streß nach, soll heißen, der Unterrichtsstoff war fast durch, wir konnten sogar hier und da kurze Wiederholungen einfügen, die der Festigung der Kenntnisse dienten. Ferner ergab sich an zwei Nachmittagen die Möglichkeit, eine halbe Stunde früher „den Schirm zuzumachen“, wie Sch. es ausdrückte. Da war zunächst mal ein bißchen Sport angesagt, nämlich ein Spaziergang rund um das Karree, in dem die Schule stand. Heißer Sommer, noch keine 17:00 Uhr, in die Kantine, eiskaltes Cola trinken, kleine Flasche, weil süßes Zeug. Immer noch heiß. Ab unter die Dusche, umziehen, stadtfein machen und ins Grill-Coupé gehen. So verliefen die letzten Tage in Kassel. Doch die zwei restlichen Vorkommnisse seien nicht verschwiegen:
Ich weiß noch, daß es mittwochs geschah. Der Unterricht war seit einer knappen Stunde beendet, während dessen nachmittäglichem Teil wir den Kollegen J. vermißt hatten. Nun meldete er sich auf eigene Art und Weise: Er, der später zur Lokführerprüfung gar nicht erst antrat, hatte sich angesichts seiner Ausbildungslage seit dem Mittagessen „planmäßig besoffen“, wie er lallend zugab. In der Hand hielt er das obere, an den Enden gebogene Stahlrohr des Bettgestells. Zuweilen setzte er ein Ende an den Mund und entlockte dem Rohr durchaus kunstfertig schauerlich klagende Töne, die Karikatur von Alphornklängen, wenn man so will. In seinem Suff spürte er die Temperatur anscheinend nicht, denn er trug einen Parka über dem verschwitzten Hemd, aus einer dessen Taschen er eine Flasche Fusel zog, sie ansetzte und in tiefen Schlucken trank. Ich schaute unsere „Bären“ an: „Bitte macht was! Der säuft sich doch ins Jenseits!“ D. und Sch. packten den J., nahmen ihm die Flasche ab, zerrten den Parka runter, damit er nicht den Hitzschlag bekam, trugen ihn in sein Zimmer und legten ihn dort aufs Bett. J.s schwache Proteste ignorierten sie. Wir blieben noch einige Minuten dabei, mäuschenstill, endlich duselte er weg und konnte seinen Rausch ausschlafen. „Das wird nix mit dem“, konstatierte St. zutreffend. O. schüttelte den rothaarigen Kopf: „Der blamiert die ganze Innung!“ „Können wir was ändern?“ Ich war ratlos, denn schon oft hatten wir dem J. ins Gewissen geredet – vergeblich, wie man sieht. Unser Landmaschinenschlosser, diese Seele von Mensch, mit seinen damals 32 Jahren bereits Vater von drei Kindern, brachte es auf den Punkt: „Nix können wir machen! Der J. ist alt genug. Ich habe den Eindruck, der will oder kann keine Verantwortung tragen – damit wäre er als Lokführer ohnehin fehl am Platze. Ich vermute, er weiß das und darum seine Sufforgien – die hier war ja nicht die erste…“
Donnerstag, 13. Juli 1972, kurz vor Unterrichtsbeginn. Morgen würde der Lehrgang zu Ende sein – obwohl jeder Tag, jede Stunde und jede Minute harte Arbeit gewesen war, kam bei uns dennoch sowas wie leicht trauerunterlegtes, retrospektives Verhalten zu Tage: Der vielleicht wichtigste Abschnitt unseres Berufsweges befand sich in der Zielgeraden, um es mal sportlich auszudrücken. Kollege St. sah das trocken und nüchtern: „Noch ein Tag und finito. Mensch, ich bin jetzt 37, wird Zeit, daß wir die Lokführerprüfung machen!“ „Alter Sack!“, spöttelte ich und hatte mit meinen noch 23 gut Lachen, obwohl ich beileibe nicht der Jüngste unserer Truppe war; mit jeweils 19 bzw. 20 Jahren hielten ein Kollege aus Krefeld, wegen seiner Statur „Schmalzrippchen“ genannt, und unser Mann aus Birkesdorf den „Jugendrekord“. Wie dem auch sei: Jetzt noch die Abschlußprüfungen – und dann lag ein langes Berufsleben vor uns… Mir war irgendwie bedrückt zumute und Sch., einer unserer „Bären“, merkte das, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Nimm nicht immer alles so ernst, komm, lach‘ wieder!“ Ich riß mich zusammen, der Kollege hatte ja recht! Und ich hatte eine Idee: „Männers – wie wär’s, wenn wir heute abend die erfolgreiche Absolvierung des Lehrgangs im Grill-Coupé feiern würden?“ „Klasse, machen wir! Und morgen Mittag sitzen wir im Zug heimwärts!“
Donnerstag, gegen zehn Uhr morgens. Kollege J. fehlte mal wieder im Unterricht. Weil er seine Laufbahn innerlich aufgegeben hatte, wunderte uns das nicht, doch irgendwie kam ein ungutes Gefühl auf, das auch den Amtlehrer, Herrn Achtershausen, erfaßte: „Obmann, schauen Sie doch mal nach, was mit dem J. los ist!“ „Sofort! Kollege C., gehst du bitte mit?“ C. war einer der drei Koblenzer, deren Sorgenkind der J. war. „Klar, laß uns mal gucken, ob wir ihn finden.“ Der lange, schlaksige Typ erhob sich und ich mußte mir ein Grinsen verbeißen, denn eben wegen dieser Schlaksigkeit besaß er frei nach Karl May den Spitznamen „Old Wabble“. In J.s Zimmer angekommen, fanden wir selbigen im Bett, das Gesicht blaß mit roten Flecken. Ich faßte ihn bei den Schultern und bewegte ihn vorsichtig, jedoch ohne jedwede Reaktion. Schrecken ergriff mich: „Was der wohl hat!?“ „Keine Ahnung“, entgegnete Old Wabble mit der ihm eigenen Ruhe und meinte noch: „Vielleicht sollten wir ihn gegen einen Spiegel hauchen lassen; im Film machen sie das immer so.“ „Quatsch!“, fauchte ich zurück und traf eine Entscheidung: „Da muß ein Arzt her, und zwar schnellstmöglich!“ Im Laufschritt zum Büro – der meist begriffsstutzige dortige Beamte verstand sofort und reichte mir das Telephon über den Tresen, ich wählte 112 und erklärte dem Rettungsdienst, um was es ginge, wer ich sei und wo sie bitte hinkommen möchten. Nun will ich die Sache abkürzen und rasch zum Ende kommen: Der Notarzt stellte fest, daß J. eine Alkoholvergiftung habe, verstärkt durch irgendwelche Zusatzstoffe. Ich fand die Fusel-Flasche in J.s Parka, zeigte sie dem Arzt, der das Beweisstück kopfschüttelnd betrachtete und leise sagte, da seien diverse Chemikalien drin, die den „Genuß“ gefährlich gestalteten. Einer der beiden Rettungssanitäter kam dazu und gab dem Arzt ein Formular. Der las es durch, pfiff leise zwischen den Zähnen, untersuchte J. nochmal und erklärte: „Wir nehmen ihn mit zur stationären Versorgung. Der Mann müßte eigentlich tot sein – er hat einen Blutalkoholgehalt von 4,1 Promille!“ Ich regelte mit dem Arzt noch die Einzelheiten (daß die Schulverwaltung der weitere Ansprechpartner sei usw.), während die Rettungssanitäter den J. auf die Bahre packten und zum Rettungswagen trugen. Draußen heulte das Martinshorn auf… Dies war das traurige Ende einer Laufbahn. J., im Grunde ein guter Kerl, hatte sich die Zukunft selbst verbaut. Wir hörten nie wieder etwas von ihm.
Am Freitag, den 14. Juli 1972 bestiegen wir gegen Mittag den Schnellzug über Hagen nach Köln – der anstrengendste Lehrgang unserer Laufbahn war zu Ende.
Den krönenden Abschluß bildete nun der beginnende Jahresurlaub: Frei bis Montag, den 7. August. An diesem Tag mußte sich jeder auf seiner Dienststelle zurückmelden; ich hatte ab dem 8. August als Lokführer unter Aufsicht eines älteren Kollegen die Rangierlok in Troisdorf zu fahren, zirka sechs Wochen. Daran schloß sich ein umfassender wiederholender Schlußlehrgang in der Bundesbahnschule Troisdorf an, bei dem unsere bewährte Mannschaft zum letzten Mal zusammenkam. An dessen Ende folgten unmittelbar die Abschlußprüfungen.
Die kamen dann Schlag auf Schlag: Fahrprüfung Reisezug (V 215 und die dreiachsigen Lenkachswagen mit einlösiger Bremse durch die Eifel, von Köln bis Gerolstein und zurück), Fahrprüfung Güterzug (darüber habe ich ja schon berichtet: Aachen-West nach Montzen), schriftliche und mündliche Prüfung in Betriebsdienst, schriftliche und mündliche Prüfung Diesellok am 18. und 19.10.1972, garniert mit einer „Befragung“ in Staatsbürgerkunde.
Am späten Nachmittag des 19. Oktober 1972, ich hatte mal wieder ein Hemd „durch“, gratulierte mir der Prüfungsleiter: „Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Gesamtnote ‚2‘ – weiter so!“ An jenem Tage wurde ich auf die Menschheit losgelassen…
nach den vorhergegangenen langen Geschichten, nun mal was „auf die Schnelle“:
Bereits mehrfach erwähnte ich das gute Betriebsklima im BW Köln-Deutzerfeld; hinzu kam der feste Zusammenhalt von Lokführern und Lokdienstleitern – sicher, einige wenige Ausnahmen bestätigten auch hier die Regel. Es war immer schwierig, unserer verschworenen Gemeinschaft Privilegien abzutrotzen, und wie auch ein Dienststellenleiter bei einem solchen Versuch scheiterte, will ich an dieser Stelle kurz skizzieren.
Reserviert? Hinter dem Verwaltungsgebäude, das auch Lokleitung, B- und C-Gruppe sowie Aufenthaltsräume für Lok- und Werkstattpersonal enthielt, lag der Dienstparkplatz, der sich bis zum Bahndamm der dreigleisigen Strecke zwischen Köln-Deutz und Köln-Mülheim erstreckte und mit seiner Kapazität normalerweise ausreichte; wurde es dort eng, standen im Verlauf der Zufahrtsstraße weitere Plätze zur Verfügung. Jeder im Dienst befindliche Mitarbeiter stellte sein Auto ab, wo es gerade paßte – auch der Chef. Eines Tages kam ein neuer Dienststellenleiter, dem es nicht zusagte, täglich einen anderen Parkplatz benutzen zu müssen. Also ließ er flugs ein recht großes Metallschild anfertigen und über der von ihm präferierten Parkgelegenheit an der Gebäudewand montieren: „Reserviert für Leiter der Dienststelle“. Tags darauf kam er stolzgeschwellt zur Arbeit, wollte seinen PKW elegant auf den reservierten Platz rangieren … das war ihm verwehrt, denn dort stand mitten drauf, breitbeinig und rund drei Meter hoch, eine hölzerne Leiter, wie Anstreicher sie verwenden. Reserviert für „Leiter“ der Dienststelle… Gegen Mittag war das Hinweisschild verschwunden und nur vier verwaiste Dübellöcher zeugten von der Problematik, in Deutzerfeld den dicken Mann spielen zu wollen.
schon mehrfach erwähnte ich einen „seltsamen B-Gruppenleiter“, das möchte ich an dieser Stelle präzisieren: Es handelt sich um Herrn X., im Grunde ein netter Mensch, der vordem Dienststellenleiter auf der Nebenbahn gewesen war und bei uns in Deutzerfeld einen Beförderungsdienstposten errungen hatte, nämlich den des Gruppenleiters B. (Das B steht für „Betrieb“, ein B-Leiter war praktisch der Chef aller Lokführer auf der Dienststelle und nach oben nur dem Dienststellenleiter, dem „Alten“, rechenschaftspflichtig. Eine ebenso schwierige wie verantwortungsvolle Aufgabe, denn zum einen sollte im Interesse des Betriebsklimas das gute Verhältnis zum Lokpersonal gewährleistet sein, zum anderen durfte er sich aber auch nicht auf der Nase rumtanzen lassen.)
In den vielen Jahren meiner Tätigkeit lernte ich zahlreiche B-Leiter kennen, deren jeder seinen ganz speziellen Stil durchzog: von konziliant-nett bis knallhart-autoritär. Vertreter beider Extreme scheiterten über kurz oder lang; der beste war Herr Sk., der zum Glück der Lokführer den Job sehr lange machte – unter seiner Ägide entstand ein Klima des Vertrauens und der Gemeinsamkeit; und jeder wußte, daß Sk. für jeden Blödsinn Verständnis aufbrachte, nur eines durfte man niemals versuchen: ihn zu belügen oder mit faulen Ausreden kommen. Wer Mist gebaut hatte, tat gut daran, es ihm schnellstmöglich zu beichten, Sk. regelte dann den Rest und der Lokführer hatte normalerweise keine Nachteile zu erwarten – es sei denn, ein wirklich dicker Hund erforderte weitergehende Maßnahmen. Diesen Spagat zwischen „vorgesetzt“ und „kollegial“ schaffte B-Leiter X. dagegen nie, ständig schwankte er zwischen „freundlich“ und „harter Knochen“; daß die Arbeit auf der großen Dienststelle Deutzerfeld im Grunde einen Diplomaten erforderte, hatte er bei seiner Bewerbung auf den Posten ebensowenig geahnt wie unsere Ideen und Aktionen seinen dienstlichen Horizont nicht selten weit überstiegen (siehe vorherige Geschichte, „Reserviert für Leiter der Dienststelle“ – die Untersuchung des „Falles“ verlief im Sande). Im Nebenbahn-BW war er der König, bei uns bestenfalls königlicher Aktenträger. Und wir ebenso demokratisch wie auch selbstbewußt denkenden Deutzerfelder Lokführer konnten richtig fies werden, wenn jemand versuchte, in unsere Belange reinzureden, denn unser BW verfügte über Geschichte und Stil, an beidem ließen wir nicht rütteln, schon gar nicht von einem, der einfach dazukam und uns die Welt neu erklären wollte. Das alles in der Summe gesehen machte X. die Arbeit schwer, sehr schwer.
So geriet für ihn der eines schönen Tages geäußerte Wunsch der Direktion, die „lieben Mitarbeiter“ möchten sich doch bitte Namen für neue IC-Züge ausdenken und als Verbesserungsvorschläge auf dem bekannten Wege einreichen, zum wer weiß wievielten „Gang nach Canossa“…
Neue Namen für neue Züge Seit der Einführung der IC-Blockzüge (Sommerfahrplan 1979) verkehrten von Nord nach Süd und natürlich in Gegenrichtung über Köln HBf stündlich zwei Züge, die den Bahnhof im Abstand von wenigen Minuten verließen. Jeder Zug trug einen Namen, das war kurzfristig gewachsene Tradition. Von „Toller Bomberg“ bis „Carlo Magno“ zeugten die Namen von Phantasie und Regionalbezug – meistens jedenfalls.
Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr es war, als die DB angesichts des guten Erfolges der ICs beschloß, stündlich jeweils einen dritten Zug über Köln HBf zu führen, der etwa zur halben Stunde mit etwa dreißig Minuten Abstand zu den beiden anderen verkehrte. Und diese Züge benötigten Namen, die sich nicht ohne weiteres aus dem Ärmel schütteln ließen, weshalb „die lieben Mitarbeiter“ gebeten wurden, ihre grauen Zellen anzustrengen.
„Gut, daß ich Sie sehe“, rief B-Leiter X. mir schon von weitem zu, als ich die Lokleitungsetage betrat, um mich zum Dienst zu melden. „Guten Morgen Herr X., um was geht’s denn?“, fragte ich. Weitschweifig und puselig, wie es seine Art war, erzählte er mir von den neuen Zügen und den Namen, die die Mitarbeiter sich ausdenken sollten. Um ihn ein wenig zu necken, stellte ich mich anfangs begriffsstutzig, ließ ihn erklären und formulieren, bis ich eine weitere Frage vorbrachte: „Und wie soll das in der Praxis vonstatten gehen?“ „Lassen Sie sich ein paar schöne, griffige Namen einfallen, schreiben sie die auf ein DIN-A4-Blatt, das Sie mit Dienststelle, Ihrem Namen, Ihrer Anschrift und Empfängernummer kennzeichnen – rechts oben, bitte – und dann reichen Sie mir das einfach rein.“ „Hmmm“, machte ich, „sollen das bestimmte Gesellschafts- oder Berufsgruppen sein, zum Beispiel Maler, Dichter, Politiker?“ „Nein, nein, da sind Sie völlig frei! Es muß sich allerdings um berühmte Persönlichkeiten handeln.“ „Gut, Herr X., dann will ich mal schauen, was mir so in den Sinn kommt!“ „Ich wußte doch, daß ich mich auf Sie verlassen kann!“ Zackig verschwand er in seinem Büro. Verlassen – denkste! Mit X. hatte ich noch zwei kleinere Vorkommnisse zu regeln, die er vergeblich zu benutzen versucht hatte, mich „einzutunken“ … erstmal: „Rache muß sein!“
Auf der Autobahn, dem Weg nach Hause, sinnierte ich über X.s Begehren. Namen – welche Namen? Bei meiner gegebenen Zusage war mir im Unterbewußtsein sofort klar, daß ich X. auf die Rolle legen würde, aber wie? Ich mußte ihm einfach Ärger verpassen, denn mehrere Wochen nervte er mich, ich hätte eine 2000-Hz-Zwangsbremsung vor Bonn HBf verschuldet. Obwohl ich ihm anhand meines Diensttagebuches und des graphischen Dienstplans bewiesen hatte, daß ich den bewußten Zug von Dortmund bis Köln gefahren und mein Ablöser die Zwangsbremsung „kassiert“ hatte, kam er mit den hanebüchensten Argumenten immer wieder darauf zurück: „Ihr Name steht auf dem Streifen und vor Bonn diese 2000er!“ – „Ich wurde in Köln HBf abgelöst, schauen Sie doch mal in den Dienstplan!“ – „Das interessiert mich nicht, ich sehe Ihren Namen und die Zwangsbremsung!“ – „Mein Ablöser hat den Streifen nicht beschriftet und offensichtlich vergessen, wenigstens den Personalwechsel durch Verlegen des Richtungsschalters zu quittieren.“ – „Alles Vermutungen; ich sehe Namen und Zwangsbremse!“ Irgendwann platzte mir der Kragen und ich sagte in scharfem Ton, er solle Sauerkraut fabrizieren, denn seinen jetzigen Job beherrsche er in keiner Weise, und raus, „bums“, Türe zu. Seither war Ruhe. Das zweite Vorkommnis war derart belanglos, daß ich es vergessen habe – auch damit lief er mir ewig hinterher. Er suchte halt was, um den Chef mimen zu können: Verweis erteilen, Bestrafung, strengere verhängen et cetera. Das waren die Gründe, ihm mal einen gepflegten Streich zu spielen.
Zu Hause angekommen, befand ich mich im Besitz der Erleuchtung: Vor etlichen Jahren hatte ich ein satirisches Büchlein gelesen, das ich im Regal auch sofort wiederfand, Titel: „Morden ohne Risiko – Ein Leitfaden für den perfekten Mörder zum häuslichen Selbststudium“. Dort schildert der Autor, wie man anläßlich solcher Projekte am besten vorgeht, indem er tatsächliche Fälle als „Lehrstücke“ aufbereitet und am Ende zu dem Schluß gelangt, Kriminalität zahle sich nicht aus, gewissermaßen „die Moral von der Geschicht‘“. Themengemäß finden sich in dem Buch zahlreiche Namen bekannter Mörder – und etliche davon listete ich fein säuberlich mit Hilfe meiner Textspeicherschreibmaschine auf. Selbstredend ließ ich mir einige Tage Zeit, um X. auf die richtige Spannungstemperatur zu bringen…
Es waren, wie oben angedeutet, mehrere Tage vergangen, als ich an X.s Bürotüre anklopfte, meine Ausarbeitung in der rechten Hand. Es war mir gelungen, 18 Namen, darunter eine Frau, zusammenzubringen. „Herein!“, erklang es schwungvoll. Dem leistete ich Folge, grüßte kurz und zeigte X. das DIN-A4-Blatt mit der Auflistung und weiteren Anmerkungen. Er nahm es begierig zur Hand und las, nickte mehrfach zustimmend, und ich schützte Eile vor: „Herr X., ich muß los, Dienstbeginn…“
Einige Kollegen waren eingeweiht und warteten gleich mir voller Spannung, wie sich die Sache entwickeln, wie weit diese Satire „auf dem Dienstwege“ gelangen würde. Es waren klangvolle Namen auf der Liste: Rudolf Pleil, dann der berühmt-berüchtigte Hamann, der seine Opfer zu Konserven verarbeitete, Heinz Pohlmann, der angeblich das Call-Girl Rosemarie Nitribitt umgebracht haben sollte (großer Presserummel), John Christie, der etliche seiner Opfer im eigenen Hause verbuddelt hatte, Frauenmörder Peter Kürten, Heinrich Pommerenke und schließlich – wie gewünscht, weiblicher Name – Leonarda Ciuncioli, die in den 40er Jahren zahlreiche Männer umgebracht, zu Seife verarbeitet und diese an den Haustüren verkauft hatte. Das also waren meine Zugnamensgebungskandidaten. „Auf dem Dienstwege“ würde zunächst unser Dienstellenleiter meinen Schrieb erhalten und möglicherweise in die Direktionsebene weiterleiten; weil er als humorvoll bekannt war und den X. nicht leiden konnte, machte ich mir Hoffnungen, die schlußendlich auch nicht trogen.
Es vergingen ungefähr drei Wochen. Ich meldete mich zum Dienst. Der Lokdienstleiter sagte, ich solle mal zum „Alten“ kommen. Mit leicht mulmigem Gefühl – gibt’s jetzt Kasalla? – ging ich zu dessen Büro, klopfte an, trat nach Aufforderung ein … und ein breit grinsender Chef kam mir entgegen, nahm meine rechte Hand, schüttelte sie herzlich und platzte aus: „Das mit der Namensliste haben Sie großartig gemacht! Die halbe Direktion hat sich vor Lachen gebogen, weil der X. so dusselig war und nicht gemerkt hat, daß Sie ihm lauter Mörder untergejubelt haben! Ein paar Leute haben sogar die Ansagen geübt: ‚Es hat Einfahrt nach Gleis 7, Abschnitt A bis E, der Intercity Heinrich Pommerenke von Braunschweig nach München…‘ Mann, das wär‘ was geworden…!“ Wir wechselten noch einige freundliche Worte, dann war ich „in Gnaden entlassen“. Auf dem Flur begegnete mir X.: „Das waren ja alles Mörder, die Sie … was haben Sie sich dabei gedacht? Ich werde Sie jetzt beim Chef melden!“ „Schon erledigt, Herr X., machen Sie sich keine Mühe – oder, ach ja, wenn Sie meinen, gehen Sie doch und verlangen eine unnachsichtige Bestrafung des renitenten Täters.“ Schmunzelnd ging ich zu meiner Lok – kein übler Kerl, unser „Alter“ … und die Parkplatzreservierung, über deren Folgen er ehrlich gelacht hatte, war ihm auch verziehen…
also irgendwie gibt es immer wieder Leute, die unverbesserlich sind. Eine nachgewiesene Fehlbeurteilung, hier die vermeintliche Zwangsbremse von 2000 Hz des ablösenden Kollegen, muß man doch akzeptieren können. Dein Einwand zur Darstellung, und dieses dann korrekt prüfen, so wäre doch der richtige Weg gewesen. Oder brauchte er nur einen Sündenbock, um sich nicht weiter um Klärung bemühen zu müssen???
das war das Verwirrende an diesem B-Leiter, eigentlich war er ein netter Mensch, aber weil die Arbeit ihn vermutlich total überforderte, kam er häufig mit dem Chefgehabe. Daß er dabei von den meisten der Deutzerfelder Lokführer hart ausgebremst wurde, mußte er gemerkt haben, trotzdem probierte er es immer wieder.
Ich hatte mal eine 2000er an einem Prüfabschnitt erwischt, und das lief dann wie folgt (ach ja, da habe ich gleich wieder eine Story aus dem Lokführerleben):
Verschätzt IC von Hannover nach Köln. Seit Minden permanent gegen die tiefstehende Sonne gefahren, Sonnenblenden auf "Panzersehschlitz". Geschwindigkeit 160 km/h. Bei Bad Oeynhausen war eine Langsamfahrstelle mit 120 km/h, deren LF-Signal unten am Gleis stand, "im Schotter". Gelbgrundiges Signal gegen die Sonne, praktisch unsichtbar - langer Rede kurzer Sinn: Gefühlsmäßig bremste ich an, Bremse faßte ... und das Tröten der Indusihupe, Zwangsbremsung 2000 Hz am Prüfabschnitt der La-Stelle - ich hatte mich um rund 200 - 300 Meter verschätzt.
Meldekarte geschrieben.
Dann der "große" B-Leiter: "Sie haben am soundsovielten mit Zug xyz eine Zwangsbremse 2000 Hz erhalten, äußern Sie sich dazu! Es ist Ihnen bekannt, daß ich Zwangsbremsungen unnnachsichtig verfolge!" Der Kasper. Ich schilderte die Begleitumstände und schloß mit den Worten: "Herr X., ich bin sicher, Sie werden mich jetzt für eine Belobigung oder Beförderung vorschlagen. Es war schließlich eine reife Leistung, daß ich mich auf einer Strecke von 321 Kilometern nur um ganze 200 Meter verschätzt habe! Das beweist doch meine Spitzenstellung als Lokführer, nicht wahr?" Er holte mehrmals Atem, schluckte, spürte, er würde bei mir argumentativ auf den Puffer laufen und rief: "Gehen Sie, aber schnell!"
Na also, Problem erledigt.
Es folgen weitere Geschichten, bei denen dieser bemerkenswerte Vorgesetzte eine Hauptrolle spielt...
damit Ihr am Wochenende noch ein bißchen zum Schmunzeln habt, hier gleich eine weitere Geschichte über den B-Gruppenleiter X.:
Gut radiert ist halb geplant Der verpuselte Mann hatte ein spezielles Hobby, das war die Urlaubsliste. Dort, wo er vormals Dienststellenleiter war, in jenem Nebenbahn-BW, hatte er es mit insgesamt etwa 45 Leuten zu tun – in Deutzerfeld waren es rund 335 Lokführer und Lokdienstleiter; hinzu kam die ganze Peripherie wie betriebliche Unregelmäßigkeiten und die sind bei 335 Mann sicher großzahliger als bei 45. Wie dem auch sei, vermutlich aus Sorge, er könne bei derart vielen Personalen unkorrigierbare Fehler begehen, führte X. die Urlaubsliste mit Bleistift, denn auf diese Weise konnte er Fehleinträge per Radiergummi berichtigen. Und das tat er mit Hingabe: Ich habe selbst die Löcher gesehen, die er im Laufe des Jahres in das Papier der Liste reinradierte!
Heute weiß ich nicht mehr, aus welchem Grunde ich Herrn X. aufsuchte, jedenfalls betrat ich nach einem gehetzt klingenden „Herein!“ seine heilige Halle, wo er am seinem Schreibtisch saß, über die Urlaubsliste gebeugt, und eifrig radierte. Ich zog mehrmals geräuschvoll die Luft ein und fragte gut gelaunt: „Morjen Herr X., es riecht nach heißem Gummi – haben Sie die Urlaubsliste in Arbeit?“ Er unterbrach seine Tätigkeit, stutzte, bekam sichtlich Wut, schleuderte den Radiergummi schwungvoll zu Boden, wo er ein paarmal hin- und hersprang, stieß den Bürostuhl zurück, stand auf, raste zur Tür, knallte sie hinter sich zu – und weg war er. ‚Was mag er wohl haben?‘, dachte ich, denn ich war mir keiner Schuld bewußt, das mit dem heißen Gummi war doch nur ein harmloser Scherz. Ungefähr fünf Minuten später kam X. mit dem Dienststellenleiter, Herrn D., zurück und schrie mich an: „Und jetzt wiederholen Sie vor dem Chef, was Sie eben zu mir gesagt haben!“ „Ich sagte: Guten Morgen, es riecht nach heißem Gummi – haben Sie die Urlaubsliste in Arbeit? Was war denn daran so schlimm?“ X. zum Chef: „Da haben Sie es selbst gehört!“ Der Chef: „Ich sehe das Problem nicht, war doch ein netter Scherz!“, sprach’s und verließ grinsend den Raum. Höflich wie ich als der Jüngere war, hob ich den Radiergummi auf, legte ihn auf X.‘ Schreibtisch und verabschiedete mich: „Ich schau‘ dann besser später nochmal vorbei…“
Danach war X. für einige Wochen auffallend zurückhaltend – die erlittene Schlappe mußte er zunächst mal verarbeiten.
ZitatGepostet von Oldie_Kurt X. zum Chef: „Da haben Sie es selbst gehört!“ Der Chef: „Ich sehe das Problem nicht, war doch ein netter Scherz!“, sprach’s und verließ grinsend den Raum. Höflich wie ich als der Jüngere war, hob ich den Radiergummi auf, legte ihn auf X.‘ Schreibtisch und verabschiedete mich:
ich weiß, man kann sich solche "Führungskräfte" nur schwer vorstellen, doch ich versichere, daß es sich wahrhaftig so zugetragen hat! Dabei war X. noch ein harmloser Vertreter, weil er konsequent inkonsequent vorging.
Heftiger war in den späten 70ern M-Gruppenleiter C. (M-Gruppe = zuständig für bauliche Anlagen), der - als er zeitweilig den Dienststellenleiter vertrat - verfügte, daß die Eigenbau-Staubschutzfilter aus den E 110 und 140 entfernt werden sollten, weil die zu teuer seien. Der zuständige Hauptwerkmeister brüllte ihn an: "Kümmern Sie sich um Ihre M-Sch..., von Loks haben Sie keine Ahnung, Sie Pfeife!"
Später bereiste C. dienstlich die ganze Republik, um Bauformen von Lokwaschanlagen zu studieren. Die seiner Meinung nach beste wurde dann in Deutzerfeld nachgebaut. Okay, sie funktionierte, benötigte aber drei Mann Bedienungspersonal. Gerüchteweise sollte C. unter der Anlage dermaleinst bestattet werden...
Großartig auch Dienststellenleiter H.: Als sichtbares Zeichen seines Wirkens hinterließ er einen Fußgängerweg entlang des Lokverkehrsgleises, diese Bürgersteigplatten, zweireihig - tolle Leistung für A14/15. Im übrigen versuchte er die Lokführer zu terrorisieren, indem er verlangte, die E-Bremse sei stets voll auszusteuern. Ein paar Weicheier taten wie befohlen, der übergroße Rest (auch ich) verweigerte diese "Bastelbremsungen"; und als ich über meine Connections zur Werkstatt ihm die Rundlaufdiagramme etlicher E-103-Fahrmotorenkommutatoren vorgelegt hatte, die starke Schäden als Folge der häufigen elektrischen Vollbremsungen aufwiesen, wurde er sehr still, denn ich hatte unter der schriftlichen Einreichung (an die Direktion, auf dem Dienstwege) vermerkt, aus meiner praxisbezogenen Sicht seien diese "Chefbremsungen" ursächlich. Mit ätzendem Unterton erklärte der mich beim Vorlegen begleitende Hauptwerkmeister, er (der Chef) solle sich um Dinge kümmern, von denen er mehr verstünde, z.B. um Diesellolomotiven und sich bitteschön bei Elloks raushalten.
Und als dann noch eines Tages jener Kollege, der die Multimillionärin geheiratet hatte, mit ihm bewußt immer wieder aneinandergeriet, zog H. es vor, in Pension zu gehen, mit ca. 58 Jahren. Dieser Kollege war ein "rauher Hund", konnte sich zwar auf gesellschaftlichem Parkett bewegen, jedoch auch so richtig vulgär werden - und das machte er dem H. gegenüber, beispielsweise so: Zwischen Lokhalle und Verwaltungsgebäude lief das Lokverkehrsgleis mit viel Platz links und rechts sowie einem Überweg. Von dem aus konnte man in gerader Linie zum Chefzimmer raufschauen. Der Kollege postierte sich dort und rief mit seiner Stentorstimme: "Hey, Ahl, luuren's'e'ruß!" (Hey, Alter, schau' mal raus!) - Der tat es: "Ja, bitte, Herr U?" - "Isch wollt' nur'ens dinge jecke Kopp senn!" (Ich wollte nur mal deinen dummen Kopf sehen!). Derlei Vorkommnisse vergällten Dienststellenleiter H. sein weiteres Sein in Deutzerfeld - auch er scheiterte an unserem gewachsenen Zusammenhalt und natürlich explizit an dem schwerreichen Kollegen.
Darüber kann man nun denken, wie man will. Ich persönlich ziehe feinere Methoden vor, aber es gibt Typen (wie eben H.), da heiligt der Zweck die Mittel und es ist schön, wenn man die hat und einsetzt...
es ist ganz schön schlimm, wenn ich meine drei Ausbildungsjahre zusammenfasse: mindest 50 Prozent der "Kollegen" mit Alkoholproblemen. Der Rest, um es nett zu sagen, oft sehr individuell. Keine schlechten Menschen, aber sehr geprägt durch viele Jahre Bürokratie.
Was habe ich von dem Gelernten gebraucht ? Ziemlich wenig, und das ist schade.
Nur ein Beispiel: wir hatten verwaltungsinternen Unterricht, der in der Berufsschule stattfand. Die "Lehrer" waren Amtsleiter oder deren Stellvertreter. Einer war alkoholkrank, aber wirklich deftig. Den hatten wir drei Jahre lang als Lehrer, und wenn er denn überhaupt erschien, gab es nur ein Unterrichtsthema: die Gestaltung des Briefes/Briefkopfes einer Behörde. Über dieses Thema haben wir eine normale Arbeit geschrieben, es war Thema der Zwischenprüfung und der Abschlußprüfung. Bei den Kursen davor war das ebenso, und auch beim nächsten Jahrgang.
Himmel, wen hat man damals (70er jahre) nur auf die Menschheit losgelassen
-> Einmal anschieben bitte! Dieser Lokführer hat sicherlich auch einiges zu berichten.. (Ich verlinke das nur, weil es zum Thread-Titel passt).. Grüße Daniel
Tja... Die lieben Kollegen... Wie man allerdings an genau dieser Stelle liegen bleiben kann... Wo nur 8m Draht ohne Strom sind... Bleibt vielen ein Rätsel.
Wir sind Eisenbahner, eine große Familie! Es ist egal, welche Farbe die Fahrzeuge haben solang wir auch alle zusammenhalten!
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13.02.2014 18:50
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Grüße aus Süddeutschland 
